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Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Titel: Tote Maedchen schreiben keine Briefe
Autoren: Gail Giles
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muss alles schrecklich für Euch ge wesen sein. Ich komme nach Hause, damit Ihr Euch selbst davon überzeugen könnt, dass es mir gut geht. Ich habe nicht viel Geld, also nehme ich den Bus. Er trifft am Sonntag um die Mittagszeit ein. Bitte kommt nicht zum Busbahnhof. Ich möchte Euch alle erst zu Hause sehen. Das ist mir wirklich wichtig. Ach, und ruft Dad an und bittet ihn, auch da zu sein, ja?
    Wir sehen uns nächsten Sonntag! Ich kann es kaum erwarten!
    Jazz
    Ich faltete den Brief wieder zusammen und versuchte, ihn zurück in den Umschlag zu stecken. Meine Hände zitterten und es gelang mir nicht, das verflixte Papier reinzustopfen. Wenn du den Geist erst mal aus der Flasche gelassen hast...
    Mom würde glücklich sein. Wenn Jazz wieder hier war, würde sie vielleicht ihr Leben in den Griff bekommen - und Dad würde mit dem Trinken aufhören. Unser Leben wäre wie in einer Sitcom. Warum verspürte ich dann also kein Gefühl der Erleichterung?
    Ich wusste, ich sollte nach unten gehen, Mom aufwecken und es ihr erzählen. Es war erst neun Uhr abends. Ich sollte Dad anrufen. Ich sollte mich freuen. Ich sollte Jazz lieben. Die großartige, beeindruckende Jazz. Doch wie beim Zauberer von Oz verbargen sich hinter dem Vorhang Lüge und Betrug.
    Ich langte unter das Bett und zog das Album hervor. Das bewegte Leben der Jasmine Reynolds. Ich blätterte darin, dann knallte ich das Album zu und sperrte Jazz aus. Ich fegte das Buch vom Bett und kuschelte mich in die Kissen und Laken.
    Wurm. So hatte Jazz mich genannt, wenn niemand in Hörweite war. Als Abkürzung für Wurmfutter. Das Einzige, wozu ich taugte, sagte Jazz.
    Ich erinnerte mich an einen Abend, als ich zehn und Jazz vierzehn Jahre alt war. Sie wollte mit ihren Freundinnen ins Kino gehen und unsere Eltern hatten ihr gesagt, sie solle mich mitnehmen. Jazz erzählte mir, sie wolle Geld aus Dads Brieftasche stehlen, um ihren Freundinnen Süßigkeiten zu kaufen.
    Ich war nicht sonderlich entsetzt. Obwohl ich erst zehn war, fand ich, das Geld könne ebenso gut für Jazz' Schokoladenexzesse draufgehen wie für Dads Alkoholexzesse. Ich wusste, Dad war ein Trinker. Ich gehörte zu den Kindern, die alles hörten und sahen - einer der Vorteile, wenn man unsichtbar war. Wenn Jazz irgendwo auftauchte, waren die Anwesenden wie von einem Blitz geblendet. Niemand bemerkte mich, solange sie Jazz-blind waren.
    »Aber er wird merken, dass Geld fehlt, und er wird nie im Leben so betrunken sein zu glauben, Mom habe es genommen.«
    »Ich weiß, wie ich das deichsle«, erklärte Jazz.
    »Was willst du tun? Mir die Schuld zuschieben?« Schon ganz die spätere Zynikerin.
    »Nein. Ich sage ihm, dass ich es war.«
    Sie hatte nicht gelogen. Als sie loswollte, ging Dad zu dem Tischchen neben der Haustür, wo er immer seine Brieftasche und die Schlüssel hinlegte.
    »Ich geb dir etwas Geld mit, Jazz.« Er klappte die Brieftasche auf, zog ein paar Scheine heraus und gab sie ihr.
    »Das ist merkwürdig.« Er holte alle Scheine heraus und zählte sie.
    Seine Miene verdüsterte sich. »Hat eine von euch zwanzig Dollar aus meinem Geldbeutel genommen?«
    Augenblicklich sah ich schuldbewusst drein.
    Jazz blickte mich an. »Sunny?«, fragte sie leise. Dann wandte sie sich rasch ab und richtete die Augen auf Dad.
    »Ich war es, Dad. Ich habe das Geld genommen«, erklärte sie.
    Verblüfft riss ich die Augen auf, was seine Wirkung auf Dad nicht verfehlte - ganz wie Jazz es geplant hatte.
    »Du warst es?«, fragte Dad Jazz, aber starrte mich dabei an. »Warum?«
    »Ich wollte Geld fürs Kino«, antwortete Jazz.
    Da begriff ich - viel zu spät natürlich -, was da lief.
    »Dad, sie -«
    Jazz unterbrach mich: »Sunny, scht. Ich ...« Sie machte eine Pause. »Sei still. Lass mich das regeln.«
    Sie wandte sich wieder an Dad. »Ich wollte Süßigkeiten und so für die anderen kaufen.«
    Mein Gesicht war heiß und bestimmt auch rot.
    »Sunny, was hast du dazu zu sagen?«, fragte Dad.
    »Sie hat das Geld genommen. Genau wie sie sagt. Aber sie lässt es so aussehen, als ob ich es gewesen wäre«, winselte ich. Mir war klar, dass ich schon verloren hatte.
    »Natürlich. Sie hat das Geld genommen und schiebt dir die Schuld zu, indem sie zugibt, dass sie es getan hat. Das klingt ein wenig nach Machiavelli für mich. Weißt du, wer Machiavelli war?«
    Das wusste ich nicht, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er mit Jazz verwandt war.
    »Aber, Dad. Es stimmt. Ich war es«, bekräftigte Jazz.
    »Hör auf, sie zu
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