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Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Titel: Tote Maedchen schreiben keine Briefe
Autoren: Gail Giles
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Ihre Stimme war schwach und nur ein Flüstern. »Ich glaube, ich reagiere schlecht auf meine Medikamente oder so.« Das war eine wiederkehrende Aussage. Ich hatte das allzu oft gehört. An ihren schlechten Tagen war es einer der wenigen vollständigen Sätze, die Mom im Repertoire hatte.
    Ein schwaches Klopfen an der Hintertür ließ uns aufschauen.
    »Das ist Dad. Trink weiter deinen Kaffee. Es ist wichtig, dass du verstehst, was ich euch zu sagen habe.« Ich ging zur Tür und riss sie auf.
    »Es war nicht abgesperrt«, sagte ich zu Dad.
    »Das hier ist nicht mehr mein Haus«, entgegnete er. Er sah aus wie aus einem amerikanischen Roadmovie: die ganze Nacht durchgefahren, unrasiert, abgespannt, rote, tränende Augen. »Warum hast du aufgelegt? Was hast du gemeint mit...«
    Ich schnitt ihm das Wort ab. »Ich erzähle es euch gemeinsam. Setz dich, nimm dir einen Kaffee.«
    »Ich hasse das Zeug. Ich werde davon nüchtern und dann muss ich wieder mit dem Trinken anfangen.« Er zog einen Stuhl vom Tisch zurück und zuckte zusammen, als der schwere Shaker-Holzstuhl quietschend über den Küchenboden aus Ziegeln schrammte. »Morgen, Lily. Schön, dass noch jemand so schlecht aussieht wie ich.«
    Mom legte eine Hand an die Augenbraue, als wollte sie ihre Augen vor dem Licht schützen. Sie erwiderte nichts.
    Ich streckte mich und holte den Brief vom Kühlschrank, wo ich ihn versteckt hatte. Toulouse, unser Kater, versetzte mir einen Tatzenhieb auf die Finger. Er hatte eine Vorliebe für hoch gelegene Plätze. Ich legte den Umschlag, aus dem der gefaltete Brief immer noch ein Stück herausragte, auf die Tischplatte aus Kiefernholz.
    »Der ist gestern mit der Post gekommen.«
    Mom schirmte weiterhin ihre Augen ab, aber Dad griff nach dem Umschlag. »Der ist von Jazz«, sagte er andächtig.
    Mom entfuhr ein leises Geräusch, das aus tiefster Kehle kam.
    Dad stiegen Tränen in die Augen, während er den Umschlag mit den Fingerspitzen streichelte. »Der ist von Jazz«, sagte er nochmals.
    Ich massierte meinen Kiefer, dann verschränkte ich die Arme vor der Brust und lehnte mich an die Spüle.
    Mom ließ ruckartig die Hand sinken. »Jazz?«, murmelte sie.
    »Mom, Dad. Jazz lebt.« Ich wartete. Schweigen. Ich hörte Toulouse schnurren. Warum schnurrte eine Katze sich selbst etwas vor?
    »Ihr seid ... ähm ... fassungslos. Ich auch.« Immer noch keine Reaktion. Ich redete mit Statuen.
    »In dem Brief sagt sie, dass sie die ganze Zeit über unterwegs war und ein Engagement bei einem Theaterensemble hatte. Sie wusste nichts von dem Brand oder dass sie für tot erklärt worden war.«
    Immer noch nichts. Dad drehte den Umschlag um. Mom starrte mit aufgerissenen Augen darauf, als fürchtete sie sich davor.
    »Mom? Dad? Habt ihr gehört? Jazz lebt. Sie ist morgen hier.«
    Tränen liefen Mom über die Wangen. Sie streckte die Finger nach dem Umschlag aus, aber schreckte dann davor zurück, ihn zu berühren. »Jazz?«
    Dad schaute drein, als hätte man ihm mit einem schweren Gegenstand einen tödlichen Schlag versetzt. Er saß vornübergebeugt, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Der gelbe Umschlag lag jetzt zwischen ihnen auf dem Tisch.
    »Ist das wahr?« Hoffnung und Freude schlichen sich in seine Stimme. »Sunny, ist Jazz wirklich ...?«
    Er wagt nicht, es zu glauben, dachte ich. Es ist zu überwältigend für ihn. Er reagiert wie jemand, der sich nach einem überstandenen Erdbeben nicht mehr auf den Beinen halten kann.
    »Dad, ich weiß auch nicht mehr als du. Der Brief war gestern im Briefkasten.« Ich hielt inne. »Ich habe ihn nicht sofort aufgemacht. Ich dachte, es sei ein alter Brief, der erst jetzt eintrifft, und wollte ihn nicht gleich lesen.« Eine kleine Lüge war an dieser Stelle angebracht, fand ich. »Ich habe ihn erst heute Morgen gelesen.«
    Dad nickte abwesend, als müsste er noch sein Gleichgewicht wiederfinden. Er zog den Brief aus dem Umschlag und faltete ihn auseinander.
    »Es ist ihre Handschrift.«
    »Ja, und als Absender steht da nur >Jasmine<. Das hat sie immer so gemacht. Und dann das gelbe Briefpapier. Alles stimmt.«
    Dad holte tief Luft. Wie eine aufblasbare Figur richtete er sich auf, sein schlaffer Körper schwoll an und nahm eine feste Gestalt an.
    »Dann meinst du, sie ist vielleicht wirklich ... am Leben?«
    In dem Moment, da Dad es aussprach, wusste ich, dass es die Wahrheit war. »Ja, Dad. Ich glaube, sie lebt.«
    Ich erwartete, dass meine Eltern sich vor Erleichterung schluchzend in die Arme fallen
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