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Der Kuss der Sirene

Der Kuss der Sirene

Titel: Der Kuss der Sirene
Autoren: Mandy Hubbard
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Kapitel 1
    Steven Goode, der erste Junge, den ich jemals geliebt habe, war ein echter Autofreak. Zu seinem sechzehnten Geburtstag bekam er einen schrottreifen 1972er Chevy geschenkt und verbrachte die folgenden sechs Monate damit, ihn wiederherzurichten. Jeder in der Schule wusste davon, denn Steven arbeitete im Werkunterricht daran. Außerdem half ihm die Hälfte der Jungen von der Cedar Cove Highschool dabei. Sie schraubten, schliffen und polierten, bis jedes Teil aussah wie neu.
    Nachdem der Wagen fertig war, fuhr Steven damit über die Strandpromenade, ließ dabei einen Arm aus dem Fenster hängen und hatte immer dieses hinreißend schiefe Grinsen im Gesicht.
    Dann habe ich ihn getötet. Ich ertränkte ihn im Meer nur ein paar Hundert Meter entfernt von jenem Ort, an dem gerade die Party zu meinem sechzehnten Geburtstag stattfand.
    Jetzt gehe ich nicht mehr im Meer schwimmen. Nach Stevens Tod begann ich in die Berge zu fahren. Ich fand einen kleinen abgelegenen See, tief verborgen im dichten Wald. Er wird von einem Gletscher gespeist, das Wasser ist kalt wie Eis, aber ich schwimme trotzdem jede Nacht darin, bis ich blaue Lippen und steife Glieder bekomme.
    Nach diesem Geburtstag … änderte sich alles. Ich schlafe nicht mehr, sondern schwimme einfach Nacht für Nacht. Hier oben stirbt wenigstens niemand. Ich habe seit jenem Unglück vor zwei Jahren niemanden mehr getötet.
    Doch heute Nacht stehe ich in der Deckung eines Baums und beobachte, wie Cole Hitchings Steine über den See hüpfen lässt. Über meinen See.
    Es muss so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit sein, dass ausgerechnet Stevens bester Freund mir das Einzige nimmt, was mir wirklich wichtig ist. Wochenlang habe ich nach einem so abgeschiedenen, paradiesischen Ort gesucht. Und jetzt steht Cole dort, als gehörte das alles ihm.
    Meine Nägel graben sich in die Rinde der großen Zeder, während ich ihn anstarre und meine Augen ganz schmal werden vor Wut. Enttäuschung macht sich in mir breit, kocht immer mehr in mir hoch und brodelt schließlich so heftig in meiner Magengegend, dass ich Cole am liebsten anschreien würde. Er sollte nicht hier sein. Er hat ja keine Ahnung, wie sehr ich das Wasser brauche. Er weiß nicht, in welche Gefahr sich begibt, wer sich zwischen mich und meinen See stellt. In Gedanken versunken wirft er Steine und beobachtet, wie sie einmal, zweimal, dreimal über die Wasseroberfläche hüpfen. Im Wald herrscht Stille, nichts als schweigende Schemen um uns herum. Nur das Plitsch-Plitsch-Platsch der springenden Steine ist zu hören, während sich der Mond gelb schimmernd im Wasser spiegelt.
    Kilometerlange, zerklüftete Gebirgsausläufer und immergrüne Wälder trennen uns zwei vom Rest der Welt.
    Cole hat dickes, ungebändigtes, dunkles Haar und noch dunklere Augen, die ich im Mondlicht nicht sehen kann. Er trägt dünne Chinos oder so etwas Ähnliches und ein leichtes Hemd mit Knöpfen. Es ist blassgelb, soweit ich es erkennen kann, aber in der Dunkelheit bin ich mir nicht ganz sicher. Er war schon immer der am besten gekleidete Typ an der Schule.
    Er wirft die Steine wie ein Profi, obwohl er nicht gerade ein Athlet ist, zumindest nicht im herkömmlichen Sinne des Wortes. Er war noch nie ein echter Mannschaftsspieler. Es sei denn, man zählt »Frauen aufreißen« dazu, denn in dieser Disziplin hätte er eine olympische Medaille gewinnen können.
    Seine Muskeln spannen sich unter dem Hemd, während er einen Stein nach dem anderen ins Wasser schleudert. Als ihm die Steine ausgehen, bückt er sich, hebt eine weitere Handvoll auf und wirft sie alle auf einmal in den See. Er bewegt sich mit einer selbstsicheren, anmutigen Leichtigkeit wie jemand, der sich in seiner Haut wohlfühlt. Ein wenig wie ich, wenn ich im Wasser bin.
    Ich kralle meine Finger noch fester in die Baumrinde, bis sich Späne unter meine Nägel graben. Ich spüre einen stechenden Schmerz und atme scharf ein, doch ich lasse Cole nicht aus den Augen. Wenn ich heute Nacht nicht schwimme, wird mein Körper es mir morgen heimzahlen. Mein Magen wird sich umdrehen, bis er sich anfühlt, als wären tausend Knoten darin, und ich werde nichts essen können. Ich werde Krämpfe in den Beinen bekommen und jeden Moment Gefahr laufen zusammenzubrechen. Und meine Stirn wird glühen.
    Doch wenn ich jetzt schwimmen gehe … wenn ich einfach nachgebe …
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