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Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Titel: Tote Maedchen schreiben keine Briefe
Autoren: Gail Giles
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ich solle gehen, meinen Traum leben, aber ihre Augen würden ihre Traurigkeit verraten. Sie würden mich ansehen, als wollte ich sterben und sie in ihrem Kummer zurücklassen. Sie wür den bei mir zu große Schuldgefühle auslösen, als dass ich sie tatsächlich verlassen könnte. Und wenn es mir gelänge, trotzdem wegzugehen, weiß ich, dass ich mit Anrufen und Briefen bombar diert werden würde. Von Dad, der mir sagt, wie deprimiert Mom sei, von Mom, die mir sagt, dass Dad wieder mehr trinke. Beide würden mich bit ten, doch nach Hause zu kommen, nur auf einen kleinen Besuch.
    Wenn ich nicht die Nabelschnur durchtrenne, diese Schlinge aus Liebe, die sie mir um den Hals gelegt haben, dann kann ich gleich bleiben, um irgendwann so traurig und verbittert zu werden wie sie.
    Sunny weiß gar nicht, wie gut sie es hat. Sie ist eifersüchtig, weil Mom und Dad sie nicht beach ten. Sie hat recht. Die beiden nehmen sie nicht wahr. Irgendwie ist Sunny der Schlinge entgan gen, als sie noch ein Baby war. Von Geburt an war sie wie ein Igel. Und das war ihre Rettung.
    Sie kann weggehen und Mom und Dad werden nicht versuchen, sie zurückzuhalten. Da ist keine Schlinge, die sie zuziehen könnten. Sunny ist frei und ich muss zugeben, dass ich sie bis heute dafür hasse.
    Ich hielt inne. Die vergangenen Tage waren wie eine Achterbahnfahrt gewesen. Ich war aus dem Gleichgewicht. Mir war schwindelig von all den Gefühlen. Wie Opa Wilson immer sagte: »Du hast das Pferd gekauft, jetzt sieh zu, wie du es in die Scheune bekommst.«
    Ich las weiter.
    Es ist irgendein gestörter Brauch in unserer durchgeknallten Familie, Töchter nach Blumen zu benennen. Eigentlich ist es eher ein Fluch.
    Ich glaube, es ist wie bei einer sich selbst erfüllen den Prophezeiung: man wächst gewissermaßen in den Namen hinein. Ich bin Jasmine. Der gelbe Jasmin steht für Anmut und Eleganz. Die Blüte verströmt einen exotischen Duft, der alle berauscht, die in ihre Nähe kommen. Noch heute höre ich Mom, wie sie mir das erzählte, als ich ein Kind war. Ich wollte unbedingt gefallen und so wurde ich anmutig und elegant, wie Mom es sich wünschte. Es war einfach. Sie sah, was sie sehen wollte.
    Sunny heißt eigentlich Sunflower, Sonnenblume. Die Arme, schon der Name ist furchtbar. Ich meine, warum nicht gleich ein blöder Name wie Tomatenmark oder Motoröl? Zu allem Übel steht der Name für Hochmut. Mom muss grauenhaft schlechte Laune gehabt haben, als sie den Namen aussuchte.
    Als Sunny älter wurde, sagte Mom uns immer wieder, dass der Name bestimmt eine Eingabe gewesen sei, weil Sunny immer abseits stand, als wäre sie sich zu schade, um sich unter uns andere Blumen zu mischen. Hey, ich bin der lebende Beweis dafür, dass man einem Kind etwas nur oft genug sagen muss, damit es schließlich darauf hört.
    Ich habe ein anderes Bild von Sunny. In meinen Augen wendet sie ihren Kopf stets der Sonne zu und weist die Dunkelheit zurück.
    Und die Dunkelheit, das ist unsere Familie.
    Ich musste eine Pause machen.
    Wenn Jazz wirklich so über mich gedacht hatte, warum war sie dann so grausam gewesen? Denn, egal was in dem Tagebuch stand, sie war grausam gewesen.
    Ich vertiefte mich wieder in die Aufzeichnungen meiner Schwester.
    Was auch immer der Grund dafür ist - ihre eigene Schuld oder ein verquerer genetischer Zufall, angeboren oder anerzogen -, Sunny ist stachelig wie ein Igel. Ich weiß, es ist nur eine Abwehrhaltung, doch du kommst einfach nicht an sie heran. Sunny ist stets bereit, verletzt zu werden, sie scheint nur darauf zu warten. Um dann selbst mit ihren spitzen Stacheln blutige Wunden zu verursachen. Wenn man nicht gerade ein Heiliger ist, wendet man sich von Dingen ab, die einen verletzen. Oder man reagiert ebenfalls mit Verletzungen. Ich habe beides getan.
    Als Rechtfertigung sage ich mir selbst, ich hätte dafür gesorgt, dass Sunny frei ist, zu gehen, sobald sie bereit dafür ist. Meinen Eltern macht sie mit ihren scharfen Kanten Angst. Wenn Sunny uns ausreichend hasste, würde sie sich ihnen entziehen, sobald die Zeit dafür gekommen ist, selbst wenn ich Mom und Dad in ihrer Obhut zurückließe. Wir alle haben Sunny beigebracht, so hart zu werden.
    Es ist seltsam, eigentlich sollte ich meine Geschichte aufschreiben und jetzt habe ich hauptsächlich über Sunny geschrieben. Und gerade ging mir ein Gedanke durch den Kopf: Im mer wenn Sunny Mom, Dad oder mich ansieht, wird uns bewusst, dass sie all unsere Schwächen erkennt. Wir sind Spiegelbilder und
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