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Tortenschlacht

Tortenschlacht

Titel: Tortenschlacht
Autoren: Oliver G Wachlin
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Theater- und Tanzgruppen. Pamphlete wurden verteilt, in denen die Zusammenlegung inhaftierter RAF -Kämpfer gefordert wurde. Und ganz vorn am Eingang zur Wagenburg hatte das »Neue Forum« einen Infostand aufgebaut.
    Melanie hockte mit einem Walkie-Talkie bewaffnet auf dem Dach des Hauses Helmholtzplatz Nummer fünfzehn. Neben ihr schweigend Polzin, an einer Zigarette ziehend und ab und zu einen Blick durchs Fernglas werfend. Hinten ratterte eine Hochbahn über den Viadukt an der Schönhauser Allee, über den Himmel zog ein Jumbojet der PanAm im Anflug auf Berlin-Tegel.
    Alles schien ruhig im Prenzlauer Berg, die Polizei hatte sich zurückgezogen. Kein einziger Streifenwagen sei zu sehen, hatten die Späher gemeldet, was schon wieder fast gespenstisch anmutete.
    Melanie seufzte schwer. Sie war furchtbar müde, wollte aber auf keinen Fall einschlafen. Außerdem fand sie es viel zu warm für Oktober.
    »Sei doch froh«, antwortete Polzin. »Kalt wird’s früh genug.«
    Aber wenn es kalt wäre, könnte sie sagen, sie friere. Und dann würde Polzin sie in den Arm nehmen.
    Er nahm sie auch so in den Arm.
    »Küss mich«, verlangte Melanie.
    Als Polzin zögerte, regte sich Melanie zunehmend auf: Ob er nicht merke, dass sie brenne vor Leidenschaft, und wenn er sie nicht gleich küsse, würde sie verglühen wie eine Sternschnuppe im August.
    Man sah Polzin an, dass er sich fragte, woher sie das hatte.
    Melanie seufzte leidenschaftlich. »Küss mich, sonst werd ich ohnmächtig!«
    Das muss jeder Mann verhindern, und deshalb küsste er sie. Richtig wohl mochte ihm dabei nicht sein, immerhin war Melanie erst sechzehn, mithin noch nicht volljährig …
    »Seit wann hältst du dich an die Ämterbürokratie«, regte sich Melanie auf, denn sie wollte mehr. Polzin war gut im Küssen. Und so ein charismatischer Typ. Obgleich er immer behauptete, im Moment die Schnauze gestrichen voll von Frauen zu haben. So ein Idiot!
    »Noch mal«, hauchte Melanie.
    Nein! Er war neun Jahre älter und sie bestimmt noch Jungfrau!
    »Das kann sich ändern«, lächelte Melanie und schmiegte sich an ihn. Außerdem: Was waren schon neun Jahre?
    Dark kam herauf, brachte Bier und Kaffee in einer Thermoskanne. Die nächsten Bands seien so weit, sagte er, die Leute wollten Punk, deshalb seien sie hier. Er habe eine Liste gemacht. So gegen halb zehn Uhr abends sei die ANORAK ZONE dran. Dann komme Spinne und löse Melanie hier oben ab.
    »Allet klar?«
    »Alles klaro«, erwiderte Melanie.
    Dark sah sie groß an. Es gefiel ihm sichtlich nicht, wie sie hier mit Polzin rummachte.
    »Mann, wir machen hier nicht rum! Zisch ab!«
    Dark trollte sich.
    Was Polzin so vorhabe im Leben, wollte sie wissen.
    Der erzählte von der alternativen Stadt mit weichem Moos auf den Fußwegen statt hartem Beton. Begrünung aller Grauzonen. Man müsse endlich wieder atmen können, Pferde statt Autos, Schafe statt Rasenmäher. Schluss mit Autobahnen, Atomkraftwerken und Rüstung. Dafür Bildung für alle, freier Wohnraum und ein bedingungsloses Grundeinkommen für jedermann. Back to the roots . Leben am Ursprung, ohne diese ganze bescheuerte Jagd nach der Knete und all dem verrückten Machtgerangel.
    Komisch, dachte Melanie, selbst wenn man ihn nach seinen Plänen fragt, klingt es wie ein politisches Pamphlet. Aber so müssen Revolutionäre wohl sein.
    »Und Kinder«, fragte sie ihn, »willst du mal Kinder?«
    »Wozu eigene Kinder in die Welt setzen?« Polzin winkte ab. Es gebe so viele Kinder auf der Welt, die lebten in Armut und Hunger. Die sollte man aufnehmen in die Häuser, ein Projekt, das man der Dritten Welt schuldig sei.
    »Trotzdem«, Melanie lehnte sich an ihn, »ich will mal eigene Kinder haben. Mindestens zwei!«
    »Das hat ja wohl noch ‘n bisschen Zeit«, erwiderte Polzin und sah wieder durch sein Fernglas, obwohl es gar nichts zu sehen gab.
    »Vom Küssen wird man nicht schwanger«, maulte Melanie.
    »Was ist jetzt eigentlich?« Polzin sah sie prüfend an. »Willste jetzt das Zimmer in der Siebzehn haben?«
    Melanie wusste nicht so recht. Eigentlich hatte sie ja ein schönes Zimmer bei ihrem Vater. Aber das in der Siebzehn war auch ganz nett, hatte immerhin einen kleinen Balkon, wo man im Sommer drauf frühstücken könnte. »Aber man muss noch viel machen.«
    »Wegen der Dielen fragst du Daniel«, sagte Polzin, »der macht die in Serie. Türen stehen noch im Hof, und Fensterscheiben lässt du beim Glaser machen, zwei Querstraßen weiter. Sonst ist die Bude ja noch
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