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Tortenschlacht

Tortenschlacht

Titel: Tortenschlacht
Autoren: Oliver G Wachlin
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Volkspolizisten etwas verunsicherter und leiser mit.
    Einigkeit und Recht und Freiheit
    Für das deutsche Vaterland,
    Danach lasst uns alle streben
    Brüderlich mit Herz und Hand!
    Einigkeit und Recht und Freiheit
    Sind des Glückes Unterpfand:
    Blüh im Glanze dieses Glückes,
    blühe, deutsches Vaterland!
    »Ich halte das nicht mehr aus«, schluchzt Beylich plötzlich, kaum dass wir fertig sind, »was soll das denn? Das ist doch nicht mehr mein Land«, und rennt, laut und hemmungslos drauflos weinend aus dem Raum.
    Wir sehen uns alle erschrocken an. Matuschka will ihm schon folgen, doch ich halte ihn zurück.
    »Lassen Sie mal, ich glaube, es ist besser, ich mache das.«
    Leise laufe ich auf den Gang hinaus und höre mich um. Gedämpft hört man von draußen aus der Stadt das Knallen der Feuerwerkskörper.
    Wo kann Beylich hin sein?
    Ich finde ihn schließlich auf der Männertoilette. Er steht schluchzend mit dem Gesicht an die gelblich geflieste Wand gelehnt und kann sich kaum beruhigen. Der stolze, hochgewachsene und drahtige Exmajor und Kriminalrat – er heult bittere Tränen um seine DDR wie ein kleines Kind.
    »Hey!« Behutsam gehe ich auf ihn zu und nehme ihn tröstend in den Arm. »Alles halb so wild, mhm?«
    »Das ist nicht mehr mein Land«, wiederholt Beylich hilflos. »Wo sollen wir denn alle hin?«
    »Niemand muss hier weg«, beruhige ich ihn, wohl ahnend, dass es darum gar nicht geht, »im Prinzip bleibt doch alles, wie es ist.«
    Aber das ist falsch, und es ist schlimmer.
    Viel schlimmer, als wir uns das vorstellen können. Denn plötzlich wird mir klar, dass die Menschen hier, Menschen wie Beylich, sehr viel mehr verloren haben als nur ein fragwürdiges Staatsgebilde.
    Es geht um Ideale, Ideen, Utopien. Die Art, wie man sein Leben leben will. Und es geht um Träume. Für viele mögen sie sich in dieser Nacht vom zweiten zum dritten Oktober erfüllen. Andere haben sie für immer verloren.
    Wir werden uns anstrengen müssen, ahne ich.
    Wir werden uns sehr mühen müssen, damit sich auch unsere neuen Mitbürger, Leute wie Beylich, im gemeinsamen Deutschland wohlfühlen können.
    47    HARDCORE DONNERT über den Helmholtzplatz. Gitarren kreischen im peitschendem Rhythmusstakkato, wie unter Schlägen winden sich die Musiker der ANORAK ZONE , hämmern ihre akustischen Statements in die Saiten. Und vorn am Mikrofon tanzt ein kleines, wildes, sechzehnjähriges Mädchen in zu großer Lederjacke und mit bunten Strähnen in den langen Haaren über die Bühne.
    Morgens um sechse stehst du auf,
    Bist schlecht drauf,
    Der Wecker ist eh viel zu laut,
    Schnell ins Bad und aufs Klo,
    Zum Kotzen ist dir sowieso,
    Ob es regnet oder schneit
    Und zum Frühstück wieder keine Zeit …
    »Tell me why« , brüllen ihre rauen Kerle an den Instrumenten, »tell me why-hy-hy-hy« , und vor der Bühne tanzen dreitausend junge Leute Pogo, schwenken Tücher, kreischen und singen laut mit:
    … ob in U-Bahn oder Bus:
    Warum’s hier so voll sein muss?
    Donnernd setzt die Hammondorgel ein, die Bässe dröhnen, der Drummer schlägt den Takt der ewig rennenden Zeit:
    Pünktlich stehst du an der Werkbank,
    Im Gestank,
    Das System macht dich noch krank.
    Rackerst, schuftest, machst dich platt
    Und bist nur ein kleines Rad.
    Vergiss den Himmel, blau und weit,
    Zum Träumen hast du keine Zeit!
    »Tell me why«, brüllen die Jungs, und das Mädchen ruft: »Ist die Freiheit eher Frust, weil du Geld verdienen musst?«
    Und hoch oben auf den Dächern steht ein einsamer Häuptling und sieht starr mit dem Fernglas in die Nacht hinaus. Über dem Reichstag tanzt das Feuerwerk, aber Polzin hat keinen Blick dafür. Mehrmals schon haben die Walkie-Talkies geknackt, kamen beunruhigende Nachrichten aus der Stadt.
    »Du siehst Jespenster«, meint Spinne und köpft noch ein Bier. »Heute machen die nüscht. Heute feiern alle die Einheit.«
    Von unten dröhnt die Musik herauf, aus den Verstärkern fetzt Melanies helle, wütende Stimme.
    Früher warst du Flamme und Feuer,
    Heute ist alles nur noch teuer,
    Selbst das Scheißen kostet Geld –
    Was ist das für eine Welt?!
    Und die Kerle brüllen: »Tell me why, – tell me why-hy-hy-hy – Tell – me – why?!«
    Von wegen Gespenster. Polzin spuckt die Zigarette aus und streckt den Arm aus.
    »Da vorn«, sagt er ruhig und greift zum Sprechfunk, »da rücken die Bullen an! Westbullen! Mindestens ‘ne Hundertschaft.«
    Gegen ein Uhr nachts bin ich endlich zu Hause. Müde, ziemlich kaputt, und mein Kopf
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