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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster
Autoren: Anne Perry
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KAPITEL 1
    »Da ist er!«, rief Gower, so laut er konnte, um den Verkehrslärm zu übertönen. Gerade noch rechtzeitig wandte Pitt den Kopf und sah, wie ein Mann blitzschnell zwischen einer Droschke und den dicht dahinter folgenden Pferden eines Brauereifuhrwerks verschwand. Als Gower ihm folgte, hätten ihn die schweren Tiere um ein Haar zu Fall gebracht und niedergetrampelt.
    Geschickt einer Kutsche ausweichend, rannte auch Pitt auf die Straße, musste aber sogleich stehen bleiben, um eine weitere Droschke vorüberzulassen. Als er endlich die andere Straßenseite erreicht hatte, war von dem Mann, den sie verfolgten, nichts zu sehen. Von Gower, der inzwischen zwanzig Schritt Vorsprung hatte, erspähte Pitt nur noch die wehende blonde Mähne. Indem er sich rasch zwischen Müßiggängern, Geschäftsleuten in Nadelstreifen und Hausfrauen, die ihre Einkäufe erledigten, seinen Weg bahnte, gelang es ihm, den Abstand zu Gower bis auf etwa zwölf Schritte zu verringern, und er erhaschte nach einer Weile auch einen flüchtigen Blick auf den Mann, dem sie auf den Fersen waren, sah dessen leuchtend roten Schopf und das grüne Jackett. Gleich darauf war der Flüchtende seinen Blicken wieder entzogen. Gower verschwand um eine Ecke, wobei er kurz die rechte Hand hob, um die Richtung anzuzeigen.

    Pitt folgte dem Hinweis sogleich, brauchte aber einige Sekunden, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht in der in tiefem Schatten liegenden langen, schmalen Gasse gewöhnt hatten. Dunkle Streifen liefen über die schmutzigen, nassen Ziegelmauern links und rechts; allem Anschein nach waren Dachrinnen und Fallrohre der Häuser schadhaft.
    Lastträger schleppten schwere Säcke und Stoffballen. Fässer, von denen man nicht wusste, was sie enthielten, wurden über das Pflaster gerollt. Überall in den Hauseingängen kauerten Menschen.
    Nach wie vor war es Pitt nicht gelungen, Gower einzuholen, der sich seinen Weg mühelos zwischen sämtlichen Hindernissen hindurch zu bahnen schien. Im letzten Augenblick wich Pitt einer fülligen Streichholzverkäuferin aus und bemühte sich, zu seinem Untergebenen aufzuschließen. Zwar war Gower mindestens zehn Jahre jünger als er, kaum älter als dreißig, und war solche Verfolgungsjagden eher gewohnt, doch auf die Spur gekommen waren sie West, dem Mann, den sie jetzt verfolgten, dank der Erfahrung, die Pitt in der Londoner Polizei gesammelt hatte, bevor er in den Sicherheitsdienst übergewechselt war.
    Weiter vorn machte die Gasse einen scharfen Knick.
    Rasch entschuldigte sich Pitt bei einer alten Frau, die er beim Umrunden der Ecke angestoßen hatte, und schlug dann sofort wieder das scharfe Tempo an. Jetzt konnte er Wests roten Schopf etwa vierzig Schritt vor sich sehen. Ganz offensichtlich strebte der Mann der breiten Hauptstraße entgegen. Sie mussten ihn unbedingt einholen, bevor er dort in der Menschenmenge untertauchen konnte.
    Gower war jetzt dicht hinter West und streckte schon eine Hand nach ihm aus. Doch genau in dem Augenblick schlug dieser einen Haken. Gower geriet ins Straucheln, prallte gegen eine Mauer, krümmte sich vor Schmerz und blieb, um Atem ringend, stehen.

    Pitt beschleunigte das Tempo noch einmal und holte West in dem Augenblick ein, als dieser in die Hauptstraße einbog, sich dort rücksichtslos seinen Weg durch eine Menschengruppe bahnte und verschwand.
    Pitt folgte ihm. Schon an der nächsten Kreuzung sah er den Mann wieder vor sich. Er musste ihn um jeden Preis fassen und achtete jetzt seinerseits auch nicht mehr darauf, ob er jemanden anstieß oder beiseiteschob. West wusste Dinge, die von entscheidender Bedeutung sein konnten. Auf dem ganzen europäischen Kontinent nahm die politische Unruhe rasch zu und äußerte sich immer heftiger. Allenthalben gab es Versuche, im Namen angeblicher Reformen Regierungen zu stürzen und anarchische Zustände zu etablieren, die nach Ansicht ihrer Befürworter eine Art Gleichheit aller vor dem Gesetz gewährleisteten. Manche dieser Neuerer begnügten sich mit Brandreden, während andere zu Dynamit oder Schusswaffen griffen.
    Der englische Sicherheitsdienst hatte erfahren, dass ein Anschlag geplant war, doch waren ihm weder die führenden Köpfe bekannt noch – weit gravierender –, wer dabei als Opfer ausersehen war. Diese Angaben sollte West machen, um den Preis seines eigenen Lebens, falls sein Verrat bekannt wurde.
    Wo nur zum Teufel steckte Gower? Pitt sah sich im Gewimmel um, um festzustellen, ob er ihn in dem Meer aus Köpfen,
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