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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster
Autoren: Anne Perry
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haben.«
    »Guter Gedanke«, stimmte ihm Pitt zu.
    »Glauben Sie, dass West wirklich etwas für uns hatte?«, fuhr Gower fort. »Wrexham könnte ihn ja aus irgendeinem anderen Grund umgebracht haben. Vielleicht hatten sie Streit? Diese revolutionären Typen sind ziemlich hitzig. Verrat innerhalb der Gruppe? Streit um die Führung?« Mit seinen blauen Augen sah er so angespannt zu Pitt hin, als wolle er dessen Gedanken lesen.
    »Da bin ich ganz sicher«, gab dieser gelassen zurück. Ihm als dem deutlich Ranghöheren oblag es, die Entscheidungen zu treffen. Gower hatte kein Recht, ihm da hineinzureden. Angesichts der Situation, in der sie sich befanden, vermochte ihn dieser Gedanke nicht so recht zu trösten. Unwillkürlich musste er daran denken, wie sicher sich Narraway gewesen war, dass ein Unternehmen geplant war, im Vergleich zu dem die Bombenanschläge der jüngsten Zeit, zu denen es hier und da gekommen war, harmlos erscheinen würden. Dabei waren die durchaus spektakulär gewesen. So hatte ein französischer Anarchist im Februar des Vorjahres, 1894, das Königliche Observatorium in Greenwich mit einer Höllenmaschine in die Luft zu jagen versucht, was ihm zum Glück misslungen war. Im Juni hatte ein italienischer Anarchist namens Santo Caserio den französischen Präsidenten Carnot erstochen und war im August dafür hingerichtet worden. Unmittelbar vor Weihnachten hatte man den französischen Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus wegen angeblichen Hochverrats vor Gericht gestellt und ihn wenige Wochen darauf zu lebenslänglicher Verbannung auf die Teufelsinsel verurteilt. Allerdings stellte sich im Laufe der Zeit heraus, dass es sich dabei um einen auf Vorurteile und Hetze gegründeten Skandal gehandelt hatte. Überall lagen Zorn und Ungewissheit in der Luft.

    Wrexham zu folgen war zweifellos riskant, doch wenn sie ihn festnahmen und dadurch nicht mehr herausfänden, wäre das eine Art Niederlage.
    »Wir bleiben dran«, gab Pitt zurück. »Haben Sie genug Geld, um noch einmal eine Fahrkarte zu lösen, falls wir uns trennen müssen, damit wir ihn ganz bestimmt nicht aus den Augen verlieren?«
    Gower zählte seinen Barbestand. »Sofern er nicht bis Schottland fährt, reicht es, Sir. Hoffentlich will er da nicht hin.« Er verzog das Gesicht zu einem kläglichen Lächeln. »Wissen Sie, dass die da im Februar minus 45 Grad hatten – die niedrigste Temperatur, die man je auf den Britischen Inseln gemessen hat? Wenn der Bursche da eine Bombe zünden würde, um ein wärmendes Feuer in Gang zu setzen, könnte man ihm das kaum übel nehmen.«
    »Das war im Februar«, gab Pitt zu bedenken. »Inzwischen haben wir April. Hier kommt gerade ein Bahnhof. Ich steige rasch aus und halte Ausschau. Beim nächsten Mal sind Sie an der Reihe.«
    »Ja, Sir.«
    Pitt öffnete die Tür. Kaum hatte er einen Fuß auf den Boden gesetzt, als er Wrexham aussteigen und auf die andere Seite des Bahnsteigs rennen sah, wo ein Zug nach Southampton abfahrbereit stand. Pitt wandte sich um, um Gower ein Zeichen zu machen, doch der stand bereits neben ihm. Gemeinsam gingen sie ebenfalls hinüber, wobei sie sich bemühten, auf keinen Fall den Eindruck zu erwecken, als sei es ihnen eilig. Sie setzten sich einander gegenüber, um sicher zu sein, dass einer von ihnen Wrexham sehen würde, falls er rasch wieder ausstieg, um nach London zurückzufahren.
    Doch der Mann schien nicht im Traum an die Möglichkeit zu denken, dass man ihm folgte. Er wirkte völlig unbefangen. Seinem Gesichtsausdruck nach hätte man annehmen können,
er habe einen ganz normalen Tag hinter sich. Pitt musste sich bewusst daran erinnern, dass Wrexham erst vor wenigen Stunden im East End einem Mann vor einer verlassenen Ziegelei die Kehle durchgeschnitten und in aller Ruhe mit angesehen hatte, wie er verblutete.
    »Ein unfassbar kaltblütiger Schweinehund!«, stieß er mit plötzlichem Zorn hervor.
    Ein Mann in Nadelstreifen, der ihm gegenübersaß, ließ seine Zeitung sinken und sah ihn angewidert an, dann raschelte er betont mit dem Blatt und setzte seine Lektüre fort.
    Gower lächelte. »Das kann man wohl sagen«, gab er ruhig zurück. »Wir müssen äußerst wachsam sein.«
    Bei jedem Halt des Zuges vergewisserten sie sich, dass Wrexham nicht ausstieg, bis sie schließlich Southampton erreichten. Er schien nach wie vor nicht im Geringsten mit der Möglichkeit zu rechnen, dass man ihm folgte.
    Verwirrt sah Gower zu Pitt hin. »Was kann der nur hier wollen?«, fragte er. Sie eilten
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