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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster
Autoren: Anne Perry
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diesem Mann nie für möglich gehalten hätte. Verblüfft hatte er begriffen, dass Narraway das Scheitern dieser Träume bedauerte, womöglich noch mehr als den Tod der von Leidenschaft und Idealismus angetriebenen Männer und Frauen, die im guten Glauben ihr Leben geopfert hatten, um sie zu verwirklichen.
    Dann jedoch hatte Narraway den Kopf geschüttelt, als wolle er sich selbst zur Ordnung rufen. »Aber heute haben wir es mit ganz anderen Leuten zu tun, Pitt. Sicher werden sie auf die Dauer Erfolg haben, allerdings nicht, wenn sie auf Gewalt setzen. So gehen wir hier in England nicht vor. Bei uns ergeben sich Veränderungen mit der Zeit, Schritt für Schritt. Wir werden dahin gelangen, aber nicht mit Feuer und Schwert.«
    Der Wind ließ nach, das Wasser glättete sich.

    Es war nicht mehr weit bis zum Südufer der Themse. Sie mussten eine Entscheidung treffen. Gower sah ihn erwartungsvoll an.
    Das Boot, in dem Wrexham saß, hatte beinahe das Lavender Dock erreicht.
    »Bestimmt will der irgendwo hin«, sagte Gower mit Nachdruck. »Sollen wir ihn uns jetzt packen, Sir – oder abwarten und zusehen, wohin er uns führt? Wenn wir jetzt zuschlagen, erfahren wir voraussichtlich nicht, wer hinter der Sache steckt. Der redet bestimmt nicht – wozu sollte er? Wir waren praktisch Zeugen, wie er West umgebracht hat, und ihm ist klar, dass er dafür hängen wird.« Er wartete mit gerunzelten Brauen.
    »Glauben Sie, dass es uns gelingt, ihn nicht aus den Augen zu verlieren?«, fragte Pitt.
    »Unbedingt«, sagte Gower, ohne zu zögern.
    »Schön.« Pitt hatte seine Entscheidung getroffen. »Dann halten wir uns erst einmal zurück. Wenn es nötig ist, trennen wir uns, um ihm auf den Fersen zu bleiben.«
    Sie ließen ihr Boot warten, bis Wrexham die schmale Treppe zum Ufer emporgestiegen und beinahe verschwunden war. Dann folgten sie ihm, wobei sie darauf achteten, sich in einer gewissen Entfernung zu halten. Manchmal gingen sie gemeinsam, öfter aber ließen sie so viel Abstand zwischen sich, dass ein Außenstehender sie für einander Unbekannte gehalten hätte, die zufällig in dieselbe Richtung gingen, ohne etwas miteinander zu tun zu haben.
    Wrexham schien inzwischen so sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein, dass er sich kein einziges Mal umsah. Vielleicht nahm er an, dass es ihm gelungen war, seine Verfolger abzuschütteln. Angesichts des dichten Verkehrs auf der Themse war ihm wohl nicht aufgefallen, dass gleich nach seinem Boot ein weiteres den Fluss überquert hatte. Sie konnten von Glück sagen, dass sie ihn nicht aus den Augen verloren hatten.

    Am Bahnhof drängten sich mindestens zwei Dutzend Menschen vor dem Fahrkartenschalter.
    »Sollten wir nicht vorsichtshalber Karten für die ganze Strecke lösen, Sir?«, sagte Gower. »Es wäre nicht gut, wenn wir unterwegs einem Schaffner auffielen, weil wir nicht bezahlt haben.«
    Pitt sah ihn zurechtweisend an, unterdrückte aber die scharfe Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag.
    »’tschuldigung«, murmelte Gower und lächelte verlegen.
    Auf dem Bahnsteig hielten sie sich dicht in der Nähe einer Gruppe Wartender. Keiner der beiden sprach, als wenn sie nichts miteinander zu tun hätten. Dabei schien diese Vorsichtsmaßnahme unnötig zu sein, denn Wrexham sah kaum zu ihnen oder einem der anderen Wartenden hin.
    Der erste Zug fuhr in Richtung Norden, und die meisten der Menschen auf dem Bahnsteig stiegen ein. Pitt wünschte, dass er eine Zeitung hätte, um sich dahinter zu verstecken. Er hätte vorher daran denken sollen.
    »Ich glaube, da kommt der nächste Zug«, sagte Gower im Flüsterton, den Kopf in die Richtung gewandt, aus der er kommen musste. Seine Haare standen gerade ab, wo er sich mit den Fingern hindurchgefahren war. »Vermutlich fährt der nach Southampton. Unter Umständen müssen wir umsteigen …« Was er danach sagte, ging im Lärm der Lokomotive unter, die, dichte Dampfwolken ausstoßend, einfuhr. Die Türen der Waggons öffneten sich, und zahlreiche Fahrgäste stiegen aus.
    Pitt bemühte sich, Wrexham nicht aus den Augen zu verlieren. Er wartete mit dem Einsteigen bis zum letzten Augenblick für den Fall, dass dieser den Zug wieder verließ, um die Verfolger abzuschütteln. Er und Gower stiegen in den Waggon hinter ihm.
    »Wir ahnen nicht, wohin er will«, sagte Gower mit finsterer Miene. »Am besten geht einer von uns unterwegs an jedem
Bahnhof auf den Bahnsteig, um zu sehen, ob er nicht im letzten Augenblick den Zug verlässt und wir das Nachsehen
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