Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
den Begriff des Hausverstandes tatsächlich darauf bezogen, daß der Verstand ihrer Frauen primär im Häuslichen begründet lag. Indem diese Frauen Böden schrubbten, Kinder badeten, Unkraut jäteten und Küchen bedienten – und indem sie hin und wieder Bemerkungen von durchtriebener Logik von sich gaben –, schienen sie die kompliziertesten mathematischen Vorgänge in scheinbarer Ahnungslosigkeit, sozusagen von hintenherum zu lösen. Die beschürzten Ehefrauen liefen arbeitenderweise in die Lösungen gewisser Probleme geradezu hinein. Weshalb sie von ihren Gatten eindringlich beobachtet wurden, welche in dieser Betrachtung eine persönliche Idylle erkannten – die Verbindung von Theorie und Praxis.
    Der Mann am Podium beschrieb mit einem hörbaren Schmunzeln, wie er seine Frau beim Einräumen des Geschirrspülers beobachtet habe und wie er, nachdem das Gerät zur Gänze gefüllt gewesen war, herantrat, die beiden Reihen eingehend betrachtete und zu seinem größten Erstaunen feststellen konnte, daß das mit Teegeschirr, Teilen des Dessertservices und kleinen Suppenschalen bestückte obere Gitter exakt der geometrischen Form einer sogenannten Elliotschen Vermöglichung entsprach, während die untere Ebene – wo in schöner Ordnung zwei Größen von Tellern aufgereiht waren und ein in acht Quadrate gespaltener und mit einem brückenartigen Henkel ausgestatteter und mit Besteck gefüllter Behälter aufragte – mit einer der Variablen eines Dominoriffs übereinstimmte. Bekanntermaßen eignen sich Riffe und Vermöglichungen hervorragend zur Untersuchung paralleler Phänomene. Und geradeso, als wollte seine Frau dies beweisen, drängte sie den Gatten zur Seite und nahm – um noch etwas Platz zu schaffen – Umschichtungen vor, allerdings nur jeweils innerhalb einer Ebene. Woraus sich in der Folge zwei Lükken pro Gitter ergaben, Lücken, welche exakt perplexen Spalten glichen. Und da hätte sie umschichten können bis in alle Ewigkeit, mehr als diese zwei beziehungsweise vier Spalten hätten nicht entstehen können, da vollständige Riffe und vollständige Vermöglichungen im Zuge von Umschichtungsprozessen immer nur zwei imaginäre Einsen bildeten, was dadurch bewiesen wurde, daß Riffe ausnahmslos wie Vermöglichungen reagierten und umgekehrt. Eine Erkenntnis, die im ersten Moment nur sich selbst zu dienen schien. Hätten nicht gewiefte Köpfe herausgefunden, daß gewisse Riffe sich genauso verhielten wie gewisse Aktienmärkte. Die Berechnung von Riffen stellte jedoch einen langwierigen und gegen Computerunterstützung immunen Vorgang dar, ganz im Unterschied zu den kompliziert anmutenden, aber für geübte Zahlenkünstler simplen Vermöglichungen. Auch wenn diese in keiner Weise an Aktienmärkte erinnerten – und das war der für den Laien schwerverständliche paradoxe Aspekt der Geschichte –, so konnte man die Ausmaße, Entwicklungen, die Härten und Lücken eines Riffs auf eine Vermöglichung umlegen und Zahlen errechnen, die dann Schlüsse auf die Entwicklung von Wertpapieren zuließen, welche angeblich eine überaus wohlgestalte mathematische Figur besaßen. Das war alles genauso kompliziert, wie es klang, steckte zudem in den Kinderschuhen, wurde jedoch aus verständlichen Gründen als eines der hoffnungsvollsten Felder angewandter Mathematik gesehen.
    Nicht daß Wedekind den Reiz vermöglichter Riffe erkannte. Allerdings begriff er, daß dies nicht die Rede irgendeines seiner Verfolger sein konnte. Er zog sich die Jacke wie ein Pflaster vom Gesicht, starrte hinauf zur Decke, minutenlang, erhob sich schließlich, wollte aus dem Saal treten, erkannte aber diesmal gerade noch den drohenden Fehler einer Wiederholung, mathematisch gesehen einer Auflösung, weshalb er den Weg durchs Auditorium wählte. Als er nun die schütter besetzten Reihen hinabstieg, vernahm er plötzlich einen Ruf, der nur ihm selbst gelten konnte.
    »Graham!« Nicht englisch ausgesprochen, sondern eingedeutscht, wie das bekannte Vollkornbrot. Das war sein Vorname, den nur wenige kannten. Auch war ihm die Stimme vertraut. Er wandte sich nach rechts. Zwischen zwei Jünglingen saß eine von diesen Frauen, die, auch wenn sie gar nicht rauchen, aussehen, als hätten sie eine Kippe im Mundwinkel. Vielleicht weil sie einseitig lächeln. Die Frau trug etwas in der Art einer Schlangenhaut. Wedekind erkannte sie nicht, die einst Geliebte, welche nicht hatte warten wollen, bis er wieder aus dem Gefängnis gekommen war. Dabei hatte sie, obwohl ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher