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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber
Autoren: Heinrich Steinfest
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Gang gelangt war, spürte er noch immer das Projektil in seinem Rücken, wie man eine Hand spürt, die in fingerbreiter Distanz verbleibt. Nur indem er die eingebildete Kugel ernstnahm, würde sie ihn nicht erreichen.
    Die Räume, durch die er jetzt stolperte, gebärdeten sich expressionistisch, sich verengende Gänge, ein kreiselndes Treppenhaus. Schatten und scharfkantige Lichtkörper sprangen ihm vor die Beine. Er meinte, die Kugel in seinem Rücken würde grinsen, wie eine Frau, die sich über einen unförmigen Männerhintern amüsiert.
    Die Frau, die dann wirklich auftauchte, kam ihm allerdings von vorn entgegen und war sicher nicht an der humorigen Gestalt einer männlichen Sitzfläche interessiert. Ihr reichte die humorige Visage, der sie gerade eben gegenübergesessen hatte, die des Vorstands für angewandte Mathematik, Professor Hübner, ein rühriger, älterer Herr, berühmt für seine moderate Notengebung, die Geduld in Person. Mit jener Geduld und aller Rücksicht, die er Laien gerne angedeihen ließ, hatte er der Frau erklärt, daß ihre Erkenntnis bezüglich der Berechnung fallender Blätter so hochinteressant wie falsch sei. Nicht daß er das Wort »falsch« in den Mund genommen hatte, vielmehr hatte er sehr allgemein von Schwierigkeiten gesprochen, an denen bereits größte Kaliber gescheitert seien, und daß man sogar annehmen dürfe, daß fallende Blätter im Rahmen bekannter Gesetzmäßigkeiten sich anarchisch verhielten.
    Ohne diesen freundlichen Herrn gleich als Idioten abzustempeln: Sein mathematischer Verstand reichte bei weitem nicht aus, um zu begreifen, daß die Dame, die er soeben gönnerhaft niedergelächelt hatte, ein epochales Werk geschaffen hatte, ein Werk, an dessen Ende eine Formel stand, die den erschütternden Vorteil besaß, ausgezeichnet zu funktionieren. Mittels deren man tatsächlich den Landeplatz eines jeden fallenden Papiers voraussagen konnte. Schon richtig, daß die Dame nicht imstande war, ihre Formel mit mathematischen Mitteln zu beweisen, aber schließlich befand man sich nicht auf dem Platz rein abstrakter Spielereien, sondern mitten in einer von Schwerkraft bestimmten Wirklichkeit. Darum war sie ja zu Hübner gegangen, der dem Angewandten verpflichtet war und der eigentlich nur eines der vielen Papiere, die sich auf seinem Tisch stapelten, zu Boden hätte segeln lassen müssen, um sich von der Brauchbarkeit der simplen Formel zu überzeugen. Mit der vermuteten Anarchie fallender Blätter wäre es dann vorbei gewesen. War es eigentlich schon seit mehr als zwanzig Jahren. Damals hatte Paula Genz das Paulasche Gesetz aufgestellt. War aber jetzt erst in einem Zeitungsartikel auf die Besonderheit sozusagen frei fallender Blätter aufmerksam geworden, höchst erstaunt, daß offiziell noch niemand auf eine passende Lösung gestoßen war.
    Noch immer lebte sie in Innsbruck, wohin sie nach dem Tod ihres mörderischen Gatten gezogen war. Ja, Paula! Und wo sie, wieder als Buchhalterin arbeitend, ein geruhsames Leben führte. Irgendein Teufel mußte in sie gefahren sein, nach Wien zu reisen, in dem naiven Glauben, einer wie Hübner besitze die richtige Mischung aus Kompetenz und Toleranz, um die Tragweite ihrer mathematischen Leistung, deren immense Bedeutung sie so lange nicht erkannt hatte, zu würdigen.
    »Nette Idee«, sagte Hübner abschließend, meinte damit aber kaum die Formel, deren Idee ihm ja verborgen blieb. Vielmehr wollte er ausdrücken, daß es eine nette Idee gewesen sei, nach Wien zu kommen und ihm eine halbe Stunde seiner beamteten Zeit zu versüßen. Denn Paula war in ihren Fünfzigern zu einer überaus attraktiven Erscheinung gereift. So weit reichte Hübners analytischer Blick.
    Zum Essen war sie jedoch nicht in die Landeshauptstadt gekommen. Weshalb sie eine entsprechende Einladung des Professors ausschlug, aus seinem Büro trat, und, als sie nun den Gang entlangschritt, jenem Graham Wedekind begegnete, der – obwohl er keine Kugel mehr hinter sich spürte – noch immer rannte.
    Wedekind traf nun bereits zum zweiten Mal in kurzer Zeit auf eine Person, mit der er unwissentlich mittels dieser Geschichte verbunden war, wenngleich Paula bloß als anekdotische Figur, als Pausenfüller ihrer ehemaligen Freundin Else Resele gedient hatte. Jene Paula, die das Messer gehalten hatte, in welches ihr mörderischer Gatte wie in ein Spiegelbild seines eigenen Vorhabens hineingestürzt war.
    Der sich verfolgt fühlende Wedekind meinte jedoch, in dieser Frau eine weitere
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