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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber
Autoren: Heinrich Steinfest
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Konkretisierung seines zumeist unsichtbaren Gegners erkennen zu müssen. Und da er – vielleicht weil in beträchtlicher Bewegung – zur Kapitulation nicht gewillt war, rammte er Paula Genz, deren unvorbereiteter Körper auf das Geländer zuflog und dieses beinahe überwunden hätte. Aber sie fing sich gerade noch, konstatierte die unerfreuliche Eigenart dieses Ortes, wechselte den Trakt, verließ eiligst das Gebäude wie auch die Stadt und fuhr zurück nach Innsbruck, wo ihr – geborgen in der Sonntagsmathematik – ein langes Leben beschieden sein sollte.
    Wedekind beruhigte sich erst, als er den Ausgang auf der Seite der Boltzmanngasse erreichte und in dem engen Raum zwischen Tür und Treppenhaus vor einem bauchhohen, dunkelgelben und mit dem schneckenartigen Emblem der hiesigen Post versehenen Kasten stehenblieb, auf dem »Mathematik« stand, von Hand geschrieben, ohne Liebe für kalligraphische Feinheiten. Zudem war vergessen worden, den Postschlüssel aus dem Schloß zu ziehen.
    Wie die meisten Menschen verband Wedekind mit der Mathematik keineswegs die Freuden geistiger Abenteuer, empfand sie weniger als kolossal denn als gnomenhaft, aber hochgiftig. Und aus einer plötzlichen, gegen die Mathematik gerichteten Laune zog er den Schlüssel ab und schob ihn in eine Tasche seiner Jacke. Wo er dann auch später entdeckt wurde, der Schlüssel, und zu einigen Vermutungen Anlaß gab. Doch ins Schloß seiner Bestimmung fand er nicht mehr zurück.
    Wedekind trat hinaus auf die Boltzmanngasse, überquerte die Straße und bog wieder – auf höherer Nummer, solcherart also eine Wiederholung vermeidend – zurück in jene Gasse, die in die berühmte Stiege mündete. Und die allein schon dadurch eine besondere Note besaß, daß sie nach einem Mann benannt war, der den Namen einer Mehlspeise trug, Freiherr von Strudel. Doch Wedekind erkannte bloß die eine architektonische Qualität, den Umstand, daß eine Stiege – kam man von der richtigen Seite – abwärts führte.
    Als er den von der Wand eingefaßten Brunnen passierte, dort, wo eine Gedenktafel einen ewigen Punkt zu markieren versuchte, einen Punkt, von dem aus man die gesamte Welt begreifen konnte, und zwar alles in der Welt als bloße Abwandlung des Wienerischen, dort also wollte Wedekind soeben die letzten Stufen nehmen, als ihm ein Mann entgegenkam, der einen Pudelmischling an der Leine führte. Der Hundeausführer besaß die Gestalt eines Trinkers, der das Trinken so weit im Griff hatte, daß es ihn zwar umbringen würde, jedoch nicht wie ein irrer Schlächter jemanden umbringt, sondern wie ein gutmütiger Quacksalber, der auf die Wirkung seiner Medikamente vertraut. Der Mann trug eine kurze Stoffhose. Gehörte wohl zu denen, die mit der Eröffnung der Bäder am zweiten Mai – obwohl sie selbst nie ein Bad besuchten – in ihre kurzen Hosen hineinund so schnell nicht wieder herausstiegen. Er hatte dünne Beinchen, dünne Ärmchen, eine Fallgrube von einem Brustkorb, Haut wie feuchte Pappe und einen beträchtlichen sogenannten Bierbauch, einen wahren Knödel, der als der zentrale Ort dieses Menschen erschien, nicht weil dieser Mensch dumm war, sondern sich ehrlicherweise zwischen Geist und Körper entschieden hatte. Die schöne Wirkung dieses Bauches war auch darin begründet, daß der Mann ein von der Wölbung gestrafftes Leibchen trug, auf dem in blaßgrünen Lettern stand: Diesen herrlichen Körper hat Haselberger Wein gebaut . Wie zuvor, angesichts der in den Postkasten eingeschlossenen Mathematik, hielt Wedekind kurz inne, las den Aufdruck und betrachtete den herrlichen Körper, man darf sagen: begeistert. Begeistert ob des Umstandes, daß Wahrheit und Lüge hier einmal nicht bloß nebeneinander lagen, sondern tatsächlich eine Einheit bildeten.
    Es war eine Woche her, daß Wedekind dieser beglückenden Einheit hatte ansichtig werden dürfen. Ein kurzes Glück. Nun stand er vor dem Hotel Imperial, in unmittelbarer Nähe zum Schwarzenbergplatz. Und so gesehen war Wedekind also beinahe an seinem Ausgangspunkt, quasi seinem Rücken angekommen. Die wenigen Schritte, die noch fehlten, ergaben jenen Raum, der nicht zu begehen war. Der Raum, in dem das Irreale sich selbst in Schach hielt.
    Der minimale Spielraum, der Wedekind geblieben war, bestand darin, sich ins Foyer des Hotels Imperial zu begeben, um dort ein markantes Zeichen seiner Verzweiflung als überdeutlichen Schlußpunkt zu setzen. Sicher nicht, wie später allgemein vermutet wurde, da das Imperial
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