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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber
Autoren: Heinrich Steinfest
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konnte sie nicht genau sagen. Es war nicht so, daß ihm der Wahnsinn ins Gesicht geschrieben stand. Er schien auch nicht nervöser zu sein, als es der Situation angemessen war. Für einen Politischen konnte sie ihn schwerlich halten, nicht mit einer Walther aus dem Jahre X , selbst wenn sie intakt gewesen wäre. Allerdings: Die Schwestern saßen ungünstig. Und es bestand immerhin die Möglichkeit, den Griff dieser Waffe zu benutzen. Was nicht passieren durfte, weshalb Lilli Steinbeck erklärte, er solle die beiden Damen gehen lassen, bevor möglicherweise irgendein Herz aussetze. Ihres sei durchaus in Ordnung. Und sie stehe zu seiner Verfügung.
    Wedekind überlegte kurz. Dann verscheuchte er das Schwesternpaar, dessen erstarrte Gesichtszüge sich im Gehen lösten und einen beleidigten Ausdruck annahmen.
    Steinbeck trat an den Mann heran. Ohne die überhebliche Geste einer hingestreckten, aufgehaltenen Hand ersuchte sie Wedekind, ihr die Waffe auszuhändigen. »Das macht bei den Herrschaften dort draußen einen guten Eindruck. Und der kann jetzt nicht schaden.«
    Wedekind zielte weiterhin auf Steinbeck, erklärte jedoch, seine Flucht sei hier zu Ende.
    »Da haben Sie sicher recht«, sagte Steinbeck, ohne natürlich zu wissen, von welcher Flucht der Mann genau sprach.
    »Erstaunlich«, sagte Wedekind. So hatte er sich seinen Henker nicht vorgestellt. Nicht in einem pfirsichfarbenen Kleid. »Die haben also Sie geschickt.«
    »Ja«, sagte Steinbeck und meinte damit, daß sie Polizistin sei.
    »Dabei hatte ich mit Hufeland nichts zu schaffen«, erklärte Wedekind. »Zumindest nicht direkt. Bin dem Mann kein einziges Mal begegnet. Dieser Grisebach hat mich angeheuert … Wiese … auch egal. Und dann die Entführung … das Mädchen …«
    »Wie?« Was so gut wie nie vorkam, jetzt kam es vor: in Steinbecks Stimme war Erregung gefahren.
    Die Erregung steigerte sich noch, denn Lilli besaß auch einen guten Blick dafür, was in ihrem Rücken geschah. Sie spürte, daß die Leute des Stoßtrupps ins Foyer vorgedrungen waren, ihre lasergelenkten Präzisionswaffen anlegten und den Mann ins Visier nahmen, der möglicherweise imstande war, die völlige Dunkelheit des Falles Sarah Hafner zu erhellen, eine Dunkelheit, die sich auf erstaunliche Weise ausgedehnt hatte. Er durfte nicht sterben.
    »Halten Sie die Waffe oben!« rief Steinbeck Wedekind zu, da ja der einzige Schutz dieses Mannes darin bestand, daß er sie, die Kriminalbeamtin, bedrohte. Doch Wedekind verstand nicht. Eine Müdigkeit, eine prinzipielle, nach Wochen der Flucht, und schlichtweg jene, die jetzt schwer in seinem Arm lag, veranlaßten ihn, die Waffe zu senken.
    Auf Wedekinds Jacke, exakt an der Stelle, die sozusagen sein Herz abdeckte, leuchtete ein kleines rotes Licht auf. Er hatte noch soviel Zeit, es zu bemerken und darauf hinunterzusehen wie auf ein fremdartiges Insekt, über dessen Gefährlichkeit man sich so seine Gedanken machen konnte. Das zweite Insekt lag an uneinsichtiger Stelle. Befand sich auf seiner Stirn. Lilli Steinbeck freilich sah es. Noch während sie sich mit dem Ansatz einer abwehrenden Geste umwandte, öffnete sich an den beiden erleuchteten Stellen Wedekinds Körper, und zwei Geschosse, die er nur noch wie eine Akupunktur wahrnahm, drangen tief in ihn ein. Er sank in sich zusammen, gleich jemandem, der vom vielen Stehen ermattet war und wieder zurück auf seinen Stuhl wollte, nur daß da eben kein Stuhl mehr stand, weshalb sein Körper auf den Boden niedersank.
    Für einen kurzen Moment herrschte in dem Saal eine Flaute der Gedanken und Gefühle, tatsächlich ein allgemeiner Herzstillstand, der eigentlich nur mit dem Stillstand von Zeit zu erklären war. Ein Verlust von Zeit, dermaßen minimal, daß er nicht weiter ins Gewicht fiel. Es war so, als habe jeder der Anwesenden Wedekind ein kleines Stück in seinen Tod hineinbegleitet. Und all diese Menschen kehrten nun ins Leben zurück, um die eigene Gesundheit lautstark und bewegungsfreudig unter Beweis zu stellen. Das übliche Geschrei hob an. Es schien, als sei ausgerechnet mit dem Tod des Geiselnehmers die Gefahr an ihrem Höhepunkt angekommen. Von allen Seiten brachen vermummte, bedrohliche Gestalten in den Raum und zerrten die Leute aus dem Haus, was nichts daran änderte, daß es immer voller wurde. Ein Strom von schwarzen, schnellen Krabben ergoß sich über die Halle. Unvermeidbar, daß man sich im Weg stand und es zu Verletzungen kam. Von draußen waren die näher rückenden
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