Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
seinen Fehler nicht bemerkte und auch niemand anderer ihn hätte bemerken können, blieb selbiger bedeutungslos.
    Wedekind passierte also zum zweiten Mal jenen kühlen, dunklen Ort, der mit einer schweren Gedenktafel daran erinnerte, daß dieses Gebäude unter der Regierung einer Apostolischen Majestät erbaut worden war. Auf den seitlichen Gängen grasten die angehenden Physikerköpfe, ehrgeizige Lämmer, die einen besonders verwegenen und zugleich stilbildenden Konstruktionsbereich des Richtigen und Falschen belebten. Wedekind fürchtete, als Fremdling aufzufallen, ging die Treppe hinauf, trat durch die Flügeltür des II. Physikalischen Instituts und stieg weiter hinauf in den letzten Stock, wo sich kein einziger Mensch befand und er also ruhig ein wenig ungeschäftig herumstehen und durchatmen konnte. Eine Tür stand offen, durch die Wedekind in einen leeren, fensterlosen, theaterartigen Vorlesungssaal sehen konnte, der in einem schwachen, plüschigen Licht lag. Ein mäßiges Dröhnen fuhr wie eine Brise vom Podium aufwärts. Wedekind legte sich in der letzten Reihe auf den Boden, bedeckte Oberkörper und Kopf mit seiner Lederjacke und fiel in einen Schlaf, der wie eine Schuhschachtel war, in die man für eine Weile sein Hirn legen konnte.
    Es war eine kräftige Männerstimme, die nach mehr als einer Stunde den Deckel hob und Wedekind aus seinem Schlaf holte. Einen Moment dachte er, seine Flucht sei praktisch zu Ende. Denn er wähnte seine Verfolger im Saal. Wagte nicht, sich zu rühren, hielt den Kopf unter der Jacke und sah in das Dunkel hinein wie in ein blendendes Licht. Er vernahm das aufdringliche Geräusch von Kreide, die über eine Tafel fährt. Die Stimme assistierte der Kreide, rezitierte mathematische Formeln mit einer Getragenheit, als handle es sich um allerletzte Wahrheiten. Feststehende Kleinode, die zusammen einen Körper ergaben, der von der mathematischen Gemeinschaft als elegant, vornehm, tugendhaft, lieblich, überwältigend oder einfach sexy empfunden wurde – manche meinten, Mathematiker seien Bauern, die eben nichts anderes kennen würden.
    Für Wedekind aber besaß der Vortrag zunächst einen bedrohlichen Klang, so als erkläre hier jemand, wodurch er, Wedekind, sich schuldig gemacht habe und weshalb die Strafe so rigoros ausfallen müsse. Daß er kein Wort verstand, bestätigte ihn in seinen Befürchtungen. Denn die einer Tötung voranstehenden Erklärungen von Auftragsmördern waren in den seltensten Fällen für einen einfachen Menschen nachvollziehbar. Killer tendierten zu verstiegenen Formulierungen, psychologischen und philosophischen Ausritten, religiösen Exkursen, biographischen Anmerkungen, zu breitwandigen lyrischen Klagen, in jedem Fall zu ewig langen Vorreden. So ein Prolog konnte das Opfer – mehr als die Angst vor dem Tod – um den Verstand bringen. Hellhörig wurde Wedekind erst in dem Augenblick, als der Vortragende begann, von seiner Frau zu erzählen, einer rührenden, bescheidenen, fleißigen, durch und durch unmathematischen, aber mit Esprit ausgestatteten Person, die immer wieder mit haushälterischer Beiläufigkeit den Kern eines Problems erkenne, wie man einen fehlenden Knopf erkennt, und die mit famosem Instinkt Rätsel lösen würde, nicht wie man Nüsse knackt, sondern wie man die Haut von Tomaten abzieht, die zuvor blanchiert wurden.
    Nun entsprach es aber einem uralten Klischee, daß Berufsverbrecher niemals von ihren Frauen erzählten, sondern immer nur von ihren Müttern, die zumeist weise, streng und selbst im hohen Norden auf eine italienische Weise rundlich und lautstark waren und die dem Verbrechen eine darwinistische wie religiöse Note abgewannen.
    Daß aber an dieser Stelle die Person der Ehefrau herausgestellt wurde, mußte Wedekind irritieren. Hätte er nur ein wenig Ahnung von der Welt der Berufsmathematiker gehabt, hätte er gewußt, daß die männlichen Moderatoren dieser Zunft mit Vorliebe ihre im Nichts und der Ewigkeit gepflückten Abstraktionen in die reale Welt übertrugen, also den umgekehrten Weg der Kunst gingen. Dabei verwiesen sie gerne auf Gott, welchen sie sich als Physiker dachten, den die Mathematik auf die Idee gebracht hatte, vor allen Anfang eine Formel zu stellen, irgend so ein einfaches Ding aus fünf, sechs Zeichen, einen mathematischen Satz, mit dem man den Urknall genauso wie den Flug einer Stubenfliege erklären konnte. Und eben mindestens so gerne machten sie auf ihre Ehefrauen aufmerksam, wobei die hochgebildeten Herren
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher