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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber
Autoren: Heinrich Steinfest
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Ferne als unvergleichlich schön empfand, schwebend, glühend, Raumstationen. Er kam an unzähligen Baustellen vorbei, die in dieser Gegend – wie man sagt: jenseits der Donau – den Eindruck vermittelten, Bauwerke an sich zu sein. Und der Vorwurf, nichts würde hier fertig werden, also unangebracht war, denn ums Fertigwerden ging es ja gar nicht.
    Nach eineinhalb Monaten überquerte er bei Floridsdorf die Donau, gelangte also zurück ins Diesseits, das an dieser Stelle Heiligenstadt hieß, um – einen Bogen über Grinzing nach Döbling schlagend – seinen Weg auf der noblen, aber, wie er meinte, gefährlicheren Westflanke fortzusetzen.
    Gegen Ende dieser Flucht gelangte Wedekind auch in eine Gasse, die in jene Stiege mündete, die bei aller Materialität eine primär literarische Berühmtheit besaß, also weniger ein fußgängerisches Verbindungsstück darstellte, sondern ein von fiktiven Personen belebtes Bauwerk, das von den meisten realen Wienern gemieden wurde, wie man eine Geschichte meidet, die einen nichts angeht. Nicht wenige waren sogar überrascht, wenn sie erfuhren, daß dieser Ort tatsächlich existierte und nicht bloß zwischen den Buchdeckeln eines auf so wunderbar ermüdende Weise brillanten Buches.
    Etwa um die Mittagszeit, als die Sonne den letzten Rest von Kälte rasierte, erreichte Wedekind ebenjene Strudlhofgasse. Er hatte die Nacht in einem der Schächte unterhalb der Volksoper verbracht. Bis in die Morgenstunden war in der Oper geprobt worden. Nirgends anders auf der Welt wird derart gnadenlos geprobt, keineswegs, um einen höchsten Grad an Perfektion zu erreichen, sondern um die Entnervung aller Beteiligten voranzutreiben, da nur in absoluter Entnervung die Opernkunst einen Ausdruck findet, der ihrem hysterischen Wesen entspricht.
    Die Gesangstimmen, gewaltig dank purer Verzweiflung, begleitet von einem durch und durch disziplinierten Orchester, hatten Wedekind den dringend benötigten Schlaf geraubt. Frühmorgens brach er auf. Stellte nun fest, daß er nicht alleine war. In den zahlreichen Nischen lagen Menschen, schnarchend, vor sich hin fluchend, in Schach-, Karten- und mysteriöse Knochen- und Knotenspiele vertieft. Auch Mütter mit Kindern, zudem Jugendliche, die kaum von den wolfsartigen Hunden zu unterscheiden waren, an denen sie lehnten. Hin und wieder fanden sich Straßenhändler, die Weißweine, Schubertbüsten und handbemalte Boulevardzeitungen anboten. Erstaunlich, daß sämtliche Gänge beleuchtet waren. Die Luft freilich hätte besser sein können. Sehr wahrscheinlich, daß man Touristen hierherführte, denn in einigen Nischen lagen Männer, die ihre Köpfe auf Zithern, Geigen und sogenannten Quetschen gebettet hatten.
    Hinunter hatte Wedekind leicht gefunden. In der Toilettenanlage der volksoperischen U -Bahn-Station war er durch eine Tür getreten, die dadurch auffiel, daß sie sich nicht mit der schematischen Darstellung eines männlichen Wesens begnügte, sondern die gesamte Fläche mit kleinen Männchen ausgefüllt war, mit den schwarzen Silhouetten magrittescher Melonenträger. Allerdings schimmerte bei jeder dritten Figur ein gelblicher Ton durch das Schwarz. Ein cineastisch-populärer Hinweis dafür, daß es hinter dieser Tür eher hinunter- als hinaufgehen würde. Was dann auch der Fall war.
    Solcherart war er in einen Bereich gelangt, der sich am Morgen als ein wahres Labyrinth herausstellte. Obwohl Schilder, ähnlich den Wegzeichen auf Bäumen, die Abzweigungen markierten, irrte Wedekind zwei, drei Stunden umher und erhielt auf die gelegentliche Frage nach einem Ausgang keine oder unverständliche Antworten.
    Ausgerechnet an einer der engsten Stellen hatte sich eine Frau von unglaublichen Ausmaßen niedergelassen. Ob sie stand oder saß, konnte er nicht sagen. Ihre Körpermasse lag unter einem hellen Sommerkleid oder Nachthemd. Ihre Augen waren geschlossen. Ein merkwürdiger Geruch ging von ihr aus, unpassend – die Frische von Schnittlauch. Wedekind versuchte, sich an ihr vorbeizudrängen. Gerade als er ihre Körpermitte erreicht hatte, atmete sie – wie nach einer langen Pause – kräftig ein und drückte mit irgendeinem Teil ihres Fleisches Wedekind an die gegenüberliegende Wand. Mag sein, daß er sich mit einem Ruck hätte befreien können. Aber in gewisser Weise genoß er diesen Zustand. War allerdings peinlich berührt, als er nun von der anderen Seite einen Mann auf sich zukommen sah, welcher für unterirdische Verhältnisse ungewöhnlich gut gekleidet
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