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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth
Autoren: Zeugin der Toten
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Elisabeth Herrmann
     
    ZEUGIN DER TOTEN
     
     
    Kinderheim
Juri Gagarin, Sassnitz (Rügen), 1985
     
    Martha
Jonas stand vor ihrem geöffneten Kleiderschrank und presste die Bakelit-Hörer
noch enger an die Ohren. Das Rauschen wurde stärker. Der Sender verschwand
hinter anderen elektromagnetischen Wellen. Stimmen und Musikfetzen aus benachbarten
Kanälen legten sich pulsierend über die Frequenz. Sie hielt den Atem an und
drehte den Sendersuchlauf um eine Winzigkeit nach rechts, dann nach links,
vergeblich. Sie hatte ihn verloren.
    Der
Empfänger war ein kleines Stern-Radio Ilmenau, versteckt hinter einem Stapel
ordentlich gebügelter und nummerierter Bettwäsche. Hektisch tastete sie nach
der Antennenschnur. Die Zeit lief ihr davon.
    Für einen
kurzen Augenblick klang Barrys tiefe, sonore Stimme durch den Äther. Martha
zerrte die Schnur in Richtung Fenster. Der Seewetterdienst eroberte sich die
Frequenz zurück und gab in monotoner Endlosschleife die Windstärken in der
Deutschen Bucht bekannt. Ein paar Sekunden später drängelte sich DT 64
dazwischen und machte sich breit. »Sieben dunkle Jahre überstehn,
sieben Mal wirst du die Asche sein ...« Aus. Ende. Vor Wut hätte sie das
Gerät am liebsten aus dem Schrank gerissen und an die Wand geworfen.
    Ein
Lichtstrahl fiel durch das Fenster und geisterte über die fast kahlen Wände.
Martha zögerte. Dann streifte sie die Kopfhörer ab und verstaute sie gemeinsam
mit der Antennenschnur im Schrank. Sorgfältig schloss sie ihn ab, auch wenn das
gegen die ungeschriebenen Vorschriften war. Sie trat ans Fenster und warf einen
ärgerlichen Blick hinauf in den sternenklaren Nachthimmel. So nah am Meer
leuchteten Sterne und Mond heller als irgendwo auf der Welt. Es hätte fast
romantisch sein können. Doch Martha Jonas hatte keinen Sinn für Romantik. Nicht
sonntagabends zwischen 22 Uhr und Mitternacht. Wolken waren ideal. Warum,
wusste sie nicht. Offenbar leiteten sie die Kurzwellen besser. Es war August,
und sie wünschte sich nichts mehr als Wolken und Regen. Sie würde es in einer
Stunde noch einmal versuchen.
    Wieder
blendeten die Scheinwerfer. Das Auto fuhr zweihundert Meter entfernt über die
holprige Landstraße Richtung Mukran. Gerade wollte sie den Vorhang ganz
zuziehen, da bog es ab und steuerte auf das Eingangstor des Kinderheims zu.
Direkt davor hielt es an. Die Scheinwerfer gingen aus.
    Das war so
ungewöhnlich, dass Martha instinktiv hinter den Vorhang trat und nur noch durch
einen Spalt hinausspähte. Jemand musste den Besucher erwarten, denn ganz leise
hörte sie das Quietschen der Haustür im Erdgeschoss, und eine dunkle,
hochgewachsene Gestalt lief eilig, als ob sie sich nicht länger als unbedingt
nötig dem verräterischen Mondschein aussetzen wollte, auf das eiserne Tor zu
mit seinen wie Sonnenstrahlen verlaufenden Streben.
    Es war die
stellvertretende Heimleiterin, Hilde Trenkner. Eine Frau Ende fünfzig, die
mittlerweile mehr Macht und Einfluss hatte als ihre Vorgesetzte. Trenkner
pflegte enge Beziehungen zum Rat des Kreises und anderen, namenlosen Herren.
Männer, vielleicht wie dieser da unten, der gerade seinen dunklen Wartburg
startete und langsam durch das Tor fuhr, das die Frau genauso leise und
vorsichtig hinter ihm schloss, wie sie es geöffnet hatte. Das Auto hielt
zwischen Spielplatz und Treppe. Der Mann stieg aus. Er trug einen hellen
Staubmantel über seinem Anzug und öffnete die Beifahrertür. Er holte ein
großes, in Decken gewickeltes Bündel heraus und folgte Trenkner ins Haus.
    Langsam,
um kein unnötiges Geräusch zu verursachen, schlich Martha durch ihr Zimmer und
öffnete die Tür einen winzigen Spalt. Vor ihr lag der dunkle, hohe Flur. Durch
ein Fenster an der Stirnseite fiel bleiches Mondlicht auf das Linoleum, das
den Schatten des Fensterkreuzes grotesk in die Länge zog. Links und rechts
befanden sich zwei große Schlafsäle. Vor den Eingängen standen lange Holzbänke.
Nichts deutete darauf hin, dass dies etwas anderes als eine ganz normale Nacht
war. Um sieben ging das Licht aus, um acht wurden die Letzten verwarnt, um
neun war Ruhe. Wer sie danach noch stören wollte, musste einen guten Grund
haben oder große Sehnsucht nach einer eiskalten Dusche im Keller. Alles war
still, bis sie leise Schritte hörte und Trenkner die Treppe hochkommen sah.
    Die
stellvertretende Heimleiterin kündigte sich normalerweise mit stechendem
Schritt und dem Klirren der vielen Schlüssel an, die sie bei sich trug. Nun
aber sah sie sich
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