Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Torso

Torso

Titel: Torso
Autoren: Wolfram Fleischhauer
Vom Netzwerk:
Regeln verstoßen, sich aus dem Staub gemacht und aus der Ferne seine Bombe gezündet. Er hatte nach der Überzeugung gehandelt, die er unterschwellig immer gehegt hatte: dass das Einhalten der Regeln vor allem den Verbrechern diente. Womit er vielleicht recht hatte. Aber wie lautete die Alternative? Genauso zu werden wie die, gegen die man kämpft? Man musste sich entscheiden, Niederlagen aushalten für den Funken Hoffnung, dass das Recht, die Wahrheit, das Gute den längeren Atem haben würden. Dass dies sehr lange dauern konnte und eine unsichere Wette war, wusste sie. Aber sie misstraute einfachen Lösungen. Es gab keine Abkürzung ins Paradies. Die führte mit Gewissheit in die Hölle.
    Warum also stand sie hier? Und vor allem: Wer stand da noch? Es war ihr erst jetzt aufgefallen, dass Richtung Ortsausgang ein silberfarbener BMW mit Berliner Kennzeichen am Straßenrand aufgetaucht war. Stand der Wagen schon die ganze Zeit da? Das hätte sie doch bemerken müssen. Sie fuhr den Bordcomputer hoch, loggte sich mit ihrer Dienstnummer ein und startete eine Kennzeichenabfrage. Als der Name des Halters auf dem Monitor aufleuchtete, duckte sie sich unwillkürlich tiefer in ihren Sitz. Sie beugte sich zum Handschuhfach und holte ein kleines Fernglas daraus hervor. Laut Kfz-Bundesamt war der Halter des Wagens ein gewisser Günther Sedlazek, Jahrgang 1941, wohnhaft in Berlin-Wilmersdorf. Sie schaute angestrengt durch das Fernglas. Der flüchtige Zieten-Günstling und ehemalige BIG -Chef saß mit Sicherheit nicht in diesem Wagen, denn die beiden jungen Männer, die Sina durch ihr Fernglas nun gut zu erkennen vermochte, konnten kaum älter als zwanzig sein.
    Sina ließ ihr Fernglas wieder sinken. Mittlerweile brannte in mehreren Zimmern des Gasthofes Licht. Eine Rauchfahne schlängelte sich in der Morgendämmerung himmelwärts. Sina rührte sich nicht. Sie schaute auf den Wagen, las erneut den Halternamen auf ihrem Display und ließ sich alles noch einmal lange durch den Kopf gehen. Dann griff sie nach ihrem Handy.
    Es dauerte etwa zwanzig Minuten, bis die Polizeistreife aus Ludwigsfelde erschien. Der Wagen näherte sich im Schritttempo und hielt direkt neben dem BMW an. Zwei uniformierte Beamte stiegen aus. Das Ganze dauerte nur wenige Minuten. Sina konnte sich den Wortwechsel ausmalen. Papiere. TÜV . Reifen. Irgendetwas würde denen schon einfallen. Die beiden Wageninsassen gestikulierten Unverständnis, leisteten jedoch keinen Widerstand und nahmen auf dem Rücksitz des Polizeifahrzeuges Platz. Die Fahrt nach Ludwigsfelde samt Identitätsüberprüfung würde eine Weile dauern. Zur Not konnte sie anrufen und noch etwas mehr Zeit herausschlagen. Aber das erwies sich als unnötig. Elin Hilger hatte einen frühen Start geplant. Um zehn nach sieben öffnete sich das Hoftor, und die hochgewachsene junge Frau mit den kurzen blonden Haaren kam zum Vorschein. Sie setzte einen Fahrradhelm auf, zog den Reißverschluss ihrer Windjacke zu und stieg auf. Sina schaute ihr nach, bis sie außer Sicht war. Das Ortungsgerät registrierte zuverlässig die größer werdende Entfernung. Als es dreitausend Meter anzeigte, nahm Sina das Gerät zur Hand, rief die Peilfrequenz auf und drückte auf »Löschen«. Sind Sie sicher?, wollte das Gerät wissen.
    Sina blickte auf die verlassene Straße. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Sie atmete tief durch, aber der plötzlich schwere Druck auf ihrem Herzen verschwand dadurch nicht. Die Anzeige war von selbst wieder zurückgesprungen und zeigte nun dreitausendsechshundert Meter an. Sina starrte auf die trostlose Landschaft, den Gasthof, die grauen Industriehallen auf dem Gelände dahinter und den deprimierenden, verhangenen Himmel darüber. Sie rief nochmals die Peilfrequenz auf und drückte erneut auf »Löschen«. Sind Sie sicher?, fragte das Gerät abermals.
    Dann drückte sie: Ja.

[home]
74
    E lin hatte fasziniert zugehört und irgendwann aufgehört zu essen. Jetzt ertappte sie sich dabei, dass sie im Zimmer herumschaute, als biete es Anhaltspunkte oder Hinweise auf seinen ehemaligen Bewohner. Dreißig Jahre hatte Georg Zollanger hier verbracht, still, zurückgezogen. Und dann solch ein gewalttätiges Ende?
    »Nachdem Sie mich an jenem Sonntagmorgen abgepasst hatten«, fuhr Zollanger fort, »war mir klar, dass Sie in das gleiche Wespennest hineinstoßen würden wie Ihr Bruder. Sie würden über kurz oder lang auffallen mit Ihren Nachforschungen. Außerdem war mir klargeworden, was diese
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher