Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Torso

Torso

Titel: Torso
Autoren: Wolfram Fleischhauer
Vom Netzwerk:
Brot ab, fand auch ein Messer in dem Korb und griff nach einem der Käsestücke.
    »Mein Bruder hat die letzten dreißig Jahre hier gelebt«, begann Zollanger nach einer kurzen Pause. »Georg und ich waren zwar Zwillinge. Aber wir ähnelten uns nur äußerlich. Es gab sehr wenig, worüber wir jemals einer Meinung gewesen wären. Hätten wir im Westen gelebt, wäre das nicht so schlimm gewesen. Jeder wäre seiner Wege gegangen. Wir hätten uns vermutlich früh aus den Augen verloren und uns nicht weiter umeinander gekümmert. Aber wir sind in der DDR aufgewachsen. Da war das nicht möglich.«
    »Georg war von Jugend an sehr religiös, ein Pedant in Fragen der Moral und christlicher Grundsätze. Ich habe ihn damals gehasst. Ich war überzeugter Sozialist. Ich wollte aus Leidenschaft Polizist werden, um diesem neuen Staat zu dienen. Der Westen und alles, was dazu gehörte, erschien mir nur als eine Fortsetzung des Faschismus mit anderen Mitteln, eine Konsumhölle für Menschen, die ihre Seele an ein verabscheuungswürdiges System verkauft hatten. Religion war für mich nur die betäubende Begleitmusik für den kapitalistischen Irrsinn einer wahnsinnig gewordenen Spezies. Georg erschien mir als ein gefährlicher Träumer, der nicht verstand, dass seine Vorstellungen dem Klassenfeind in die Hände arbeiteten. Sein Starrsinn und seine Aktionen zerstörten nicht nur seine Zukunft, sondern sie bedrohten auch meine. Daher habe ich ihn ohne zu zögern verraten, als er einen ernsthaften Sabotageakt plante.«
    Er schaute sie nicht an, als er das sagte. Elin aß stumm und vermied ebenfalls Blickkontakt, da sie spürte, wie schwer es Zollanger offenbar fiel, über all diese Dinge zu reden.
    »Ich wusste damals nicht, was man ihm antun würde«, fuhr er fort. »Und als ich davon erfuhr, war es zu spät. Ich habe alles getan, um diesen Verrat wiedergutzumachen, habe meine Zukunft und mein Leben aufs Spiel gesetzt, um ihm nach seiner Haft, die ihn fast umgebracht hat, zur Flucht zu verhelfen. Das war 1971. Ein Fluchthelfer spielte ihm auf einem Flug zwischen Sofia und Bukarest einen westdeutschen Pass zu. Bei guter Vorbereitung war so ein Identitätswechsel über den Wolken damals noch möglich. Bei der Einreise in Rumänien wurde nicht so genau hingeschaut. Und von dort entkam er mit dem nächsten Flug nach Athen. Wo er später hingegangen war, wusste ich lange nicht. Erst nach dem Fall der Mauer hörte ich wieder von ihm. Das war Anfang der neunziger Jahre. Er schrieb mir. Aus Italien. Aber ich wollte keinen Kontakt zu ihm. Ich schämte mich. Für mein Verhalten von damals. Für das Ende der DDR . Eigentlich schämte ich mich für alles, was ich jemals gedacht, getan, geglaubt und gehofft hatte. Ich weiß nicht, ob Sie das nachvollziehen können. Ich schämte mich fast dafür, überhaupt da zu sein. Alles erschien mir obszön. Die Vergangenheit und die Gegenwart gleichermaßen. Das System, an das ich geglaubt hatte, und das System, dem ich nun dienen sollte.«
    »Doch«, unterbrach ihn Elin, »das kann ich sehr gut verstehen. Und glauben Sie bloß nicht, dass man in der DDR aufgewachsen sein muss, um dieses Gefühl zu teilen.«
    Zollanger suchte ihren Blick. »In meinem Kopf führte ich jahrelang Gespräche mit ihm«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. »Aber ich sprach nie über meinen Bruder, erzählte niemandem von ihm. Wem auch? Ich hielt mich an das, was ich am besten konnte, und redete mir ein, dass mir das alles nichts ausmachte, dass ich ohnehin nichts ändern konnte. Ich funktionierte. Es gab nur eine Person, die wusste, wie es in mir aussah: Anton Billroth. Ein Kollege aus dem Landeskriminalamt. Wir hatten uns bei einer Fortbildung kennengelernt und angefreundet. Er war ebenso desillusioniert wie ich. Durch ihn erfuhr ich vorletztes Jahr von Ihrem Bruder. Anton erzählte mir, dass ihm jemand hochbrisantes Material angeboten hatte. Er war damals schon ziemlich krank. Im Dezember vor einem Jahr starb er an Herzversagen. Aber seine Krankheit war nicht der Grund dafür, dass er die Hinweise Ihres Bruders nicht weiterverfolgt hat. Sie haben ja selbst gesehen, wie weit oben die ganze Sache angesiedelt ist. Anton hatte sofort erkannt, wie gefährlich das Material war. Also ließ er die Finger davon. Das machten wir beide schon länger so, wenn wir bei Ermittlungen auf Dinge stießen, von denen wir wussten, dass genauere Nachfragen ungesund werden könnten.«
    »Wie bei Selbstmördern im Tegeler Forst«, warf Elin
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher