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Torso

Torso

Titel: Torso
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Klappe an der Innenseite des Busses und holte eine Taschenlampe heraus.
    »Ich gehe jetzt erst einmal mit Harald und Günther alleine hoch«, sagte er. »Kollege Teschner, zeigen Sie uns bitte den Weg.«
    Er wollte sich erst ein Bild von der Sache machen. Ein Bild! Hätte dieser Teschner ihn nicht warnen können. Sie gingen im Gänsemarsch den Trampelpfad entlang. Immerhin hatten die beiden Kripoleute gut reagiert und einen Weg auf Asphalt gewählt, auf dem keine Spuren zu erwarten waren. Sie näherten sich dem Haupteingang von der Seite. Die Fläche vor dem Gebäude war teilweise aufgerissen. Mit etwas Glück könnte man dort später Fußspuren im aufgeweichten Untergrund finden.
    Bevor sie das Treppenhaus betraten, flimmerte plötzlich etwas vor Zollangers Augen. Er blieb stehen und richtete den Strahl der Taschenlampe nach vorn. Lautlos schwebten vereinzelte Schneeflocken zu Boden.
    »Es gibt zwei Treppenhäuser«, sagte Karlow. »Wir müssen das östliche nehmen. Hier entlang.«

[home]
2
    E lin wartete bereits seit einer Stunde. Die Holzbank begann allmählich unbequem zu werden, aber sie blieb sitzen. Behörden, dachte sie. Immer das Gleiche. Sozialamt. Arbeitsamt. Ausländerbehörde. Immer hatte man dort alle Zeit der Welt. Klar. Schließlich war die Zeit derer, die hier aufkreuzten, völlig wertlos. Null. Bei den Bullen war es offenbar ebenso.
    Ihr Termin war um zehn Uhr gewesen. Jetzt war es fünf vor elf, und noch immer war keine Frau Wilkes erschienen, um sie abzuholen. Frau Wilkes. Was interessierte sie Frau Wilkes. Sie hatte einen Termin mit einem gewissen Zollanger. Hauptkommissar. Der hatte die Antworten auf ihre Fragen. Keine Frau Wilkes.
    Elin stand auf und vertrat sich ein wenig die Beine. Der Aufpasser in seinem Glaskasten neben der Treppe schaute kurz zu ihr auf, widmete sich jedoch dann wieder seiner Zeitung. Ein grünes Lämpchen im Querbalken des Metalldetektors blinkte sinnlos vor sich hin. Elin setzte sich wieder.
    Zum hundertsten Mal überlegte sie, wie sie beginnen würde. Mit Erics letztem Besuch bei ihr in Hamburg? Mit seiner merkwürdigen Verfassung? Nein. Das wussten die ja. Und es passte zu ihrer Selbstmordtheorie. Eric sei depressiv gewesen. Und hoch verschuldet. Ergo.
    Sie biss die Zähne aufeinander und versuchte, nicht an dieses letzte Treffen zu denken. Aber es gelang ihr nicht. Als sei es gestern gewesen, sah sie ihn auf der Matratze ihres Zimmers in der Hafenstraße sitzen, hager, mit Dreitagebart, aufgekratzt wie immer und dennoch irgendwie völlig verändert. Seine blauen Augen strahlten, wenn er von seinen Projekten erzählte. Seine drei Handys steckten in Ledertaschen an seinem Gürtel. Sein ewiger Begleiter, ein Ledermäppchen mit winzigen Schraubenziehern, mit denen man jeden PC aufbekam, lag neben seinem schwarzen Rucksack. Das war Eric. Drei Handys und ein paar Uhrmacherschraubenzieher. Und seine immergleichen Fragen, warum sie in so einem Slum wohnte, noch immer für die soziale Revolution kämpfen wollte, anstatt in die technische mit einzusteigen. Die wahre Subversion finde heute nicht auf der Ebene von Betriebsräten, sondern auf der Ebene von Betriebssystemen statt. Die Waffe gegen das System sei nicht mehr die Faust, sondern der Quellcode. Und so weiter.
    Das hatte er schon immer erzählt. Aber bei diesem letzten Besuch vor vier Monaten hatte es nur noch wie eine Tonspur geklungen, eine Ansammlung von Phrasen über einem tiefen Schweigen. Aber sie hatte ihn nicht darauf angesprochen. Eric war Eric. Ihr großer Bruder. Der einzige Mensch, der ihr wirklich etwas bedeutete. Der Neunjährige, der neben ihr gestanden hatte am Grab ihrer Mutter, der ihre Hand hielt, ihr zuflüsterte, dass er sie niemals verlassen würde. Der Zwölfjährige, der ihr erklärte, dass Papa nichts dafür konnte. Dass Papa ein verzweifelter Mensch sei und sie Mama zuliebe Geduld mit ihm haben müssten. Der Fünfzehnjährige, der sie nicht verriet, als sie weglief. Und der Achtzehnjährige, der ihr das Leben gerettet hatte.
    Eric war ihre einzige Verbindung zu dieser anderen Welt gewesen. Der Welt der Fleischfresser und Geldbenutzer. Der Macker und Tussis. Der Soistesnunmals und Kannmannichtsmachens. Auch wenn er dazugehörte. Auch wenn er im Grunde genauso wie Papa war mit seinen Frauengeschichten, seiner Oberflächlichkeit. Eric, das waren ein Paar Designerjeans und ein Laptop. Papa ein Designerhemd und ein Fotoapparat. Ihr Papa, Edmund Hilger, Platzhirsch unter den Hamburger Modefotografen.
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