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Torso

Torso

Titel: Torso
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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sondern auch seinen Kollegen und engsten Mitarbeitern seine bizarre Handlungsweise zu erklären. Als die Aussage zu Ende war, herrschte konsterniertes Schweigen. Sina verließ den Raum, suchte Zollangers altes Büro auf und starrte den Platz an, wo er immer gesessen hatte. Seine persönlichen Gegenstände waren längst entfernt worden. Aber das änderte für sie nichts. Es war sein Schreibtisch, würde immer sein Platz sein. Gerade jetzt.
    Sie zog ihre Jacke an, verließ das Gebäude und fuhr nach Moabit. Elin Hilger hatte offenbar noch geschlafen. Erst nach mehrmaligem Klingeln öffnete sie die Tür einen Spalt breit und schaute Sina misstrauisch an. Als Sina ihr erklärte hatte, wer sie war und warum sie gekommen war, ließ sie sie herein. Das Gespräch dauerte knapp eine halbe Stunde. Aber im Grunde war es kein Gespräch. Sina stellte Fragen. Elin antwortete vage, ausweichend oder meist gar nicht, weil sie auf Sinas Fragen keine Antworten hatte.
    Natürlich leugnete sie zu wissen, wo Zollanger sich aufhielt. Sina hatte nichts anderes erwartet. Aber als Sina wieder ging, fühlte sie sich dennoch erleichtert. Elin Hilger war auch nur ein Opfer gewesen. Eine weitgehend ahnungslose Figur in der komplizierten Partie, die Martin und Georg Zollanger mit ihren Lebensfragen gespielt hatten.
    Es würde ihr keine Schwierigkeiten bereiten, Elin Hilger im Blick zu behalten. Was sie in der Wohnung beobachtet hatte, war eindeutig. Das Mädchen beabsichtigte, Berlin unauffällig zu verlassen. Offenbar per Fahrrad. Oder wie waren die halb gepackten Satteltaschen anderweitig zu deuten? Einen kleinen Peilsender unter Elins Fahrradsattel anzubringen war keine Schwierigkeit. Danach konnte sie nur abwarten.

[home]
72
    Z ollanger trat wortlos zur Seite. Sie schaute ihn an, musterte die schwarze Kutte, die bis zum Boden reichte, sein Gesicht, das durch einen Bart stark verändert aussah.
    Sie ging ein paar Schritte in den Raum hinein und blieb stehen. War das eine Mönchszelle? Die Behausung war unerwartet geräumig. Ein Holztisch mit zwei Stühlen stand an der Stelle, wo ein Fenster in die dicke Steinmauer eingelassen war. Ein aus Stein gehauenes Waschbecken ragte daneben aus der Wand heraus. Darunter stand eine angerostete graue Gasflasche. Erst jetzt fiel ihr Blick auf einen Gasheizstrahler an der gegenüberliegenden Wand, der leise rauschte.
    Zollanger war ihrem Blick gefolgt.
    »Den hat man mir zuliebe hereingestellt«, sagte er. »Mein Bruder hat hier immer ohne Heizung gelebt.«
    Elin wusste nicht, was sie erwidern sollte. Von einem der Holzbalken an der hohen Decke baumelte eine Glühbirne herunter, die jedoch nicht brannte. Die einzige Lichtquelle waren einige Kerzen, zwei davon auf dem Holztisch am Fenster.
    Er deutete auf einen der Stühle. »Es wird gleich etwas zu essen kommen. Sie haben doch sicher Hunger, oder?«
    Elin ließ sich auf einem der beiden Stühle nieder.
    »Wie lange sind Sie schon hier?«, fragte sie dann.
    »Seit ein paar Stunden«, antwortete er. »Seit Sie die Botschaft bekommen haben.«
    »Sie haben damit gerechnet, dass ich nach Siena kommen würde.«
    »Ich hatte es gehofft. Aber als Sie kamen, hat es mich dann doch überrascht.«
    Elin spürte, wie bereits jetzt die Kälte vom Steinboden in ihre Beine kroch. Sie zog ihren Anorak aus und umwickelte ihren Unterleib.
    »Ich bin nur wegen Ihnen hier, Elin«, sagte Zollanger. »Das war schon ein großes Zugeständnis der Leute, die sich um mich kümmern. Mein nächstes Domizil kenne ich nicht einmal selbst.«
    Elin schaute ihn ungläubig an. »Die Kirche versteckt Sie? Ist das Ihr Ernst? Die Kirche versteckt einen gesuchten Mörder?«
    »Die Kirche versteckt noch ganz andere Leute. Aber Mörder? Sie sehen mich als Mörder?«
    »Ich weiß überhaupt nicht, als was ich Sie sehen soll.«
    »Wollen Sie eine Decke?«, fragte er. »Der Boden ist kalt. Warten Sie.«
    Er erhob sich und verschwand in einer dunklen Ecke des Zimmers, wo sich offenbar noch ein weiterer Raum anschloss. Sie hörte das Schlagen einer Schranktür. Im gleichen Moment klopfte es an der Tür. Ein älterer Mönch kam mit einem Korb herein, den er wortlos auf dem Tisch abstellte. Er murmelte irgendetwas Unverständliches und verließ das Zimmer wieder.
    Elin betrachtete den Korb. Eine Flasche Wasser stand darin. Außerdem drei Stücke Käse und ein halber Laib Brot.
    »Ich habe schon gegessen«, sagte Zollanger, als er mit einer Decke zurückkam. »Bedienen Sie sich.«
    Sie brach ein Stück
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