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Torso

Torso

Titel: Torso
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Reaktionen der Jugendlichen auf die Fratzen und Ungeheuer an den Wänden und verließ dann den Saal, als die Lehrerin auf Italienisch begann, die Wandmalerei zu kommentieren.
    Was sollte sie jetzt tun? Einfach warten, wie sie es sich vorgenommen hatte? Ihr Vorhaben kam ihr plötzlich irrwitzig vor. Warum hatte er ihr die Eintrittskarte zu diesem Museum geschickt und sie so nach Siena gelockt? War dies der Ort, der Zollangers Bruder zu seiner Aktion inspiriert hatte? Sie setzte sich auf eine Bank und ließ ihren Blick durch den Saal schweifen. Auf ihrem Plan las sie, dass sie sich in der »Sala del Mappamondo« befand. Dem Weltkartensaal. Sie schaute sich um. Vor allem der Reiter auf blauem Grund an der Wand zur »Sala dei Nove« faszinierte sie. Aber dann holte die Gegenwart sie wieder ein. Was tat sie hier? Sie war quer durch Europa gefahren. Wie lange sollte sie hier sitzen? Und worauf warten?
    Sie fand keine Antwort auf ihre Fragen. Aber sie vermochte auch nicht, das Museum wieder zu verlassen. Sie besuchte die anderen Säle, kehrte jedoch immer wieder in die »Sala dei Nove« zurück, um Ambrogio Lorenzettis Allegorie von der guten und schlechten Regierung erneut zu betrachten. Manchmal trat sie an das kleine Fenster und schaute versonnen auf die Piazza del Campo hinab, wo sich trotz der kalten Jahreszeit und des schlechten Wetters viele Touristen tummelten.
    Um halb zwei verließ sie das Museum, aß etwas, kehrte um fünfzehn Uhr zurück und blieb bis zum Ende der Besuchszeit. Den Abend verbrachte sie in ihrem Hotelzimmer. Eric war in ihren Gedanken. Was würde er wohl denken, wenn er sie jetzt sehen könnte?
    Am nächsten Tag fand sie sich erneut um zehn Uhr morgens im Museum ein. Diesmal löste sie eine Eintrittskarte. Der uniformierte Kartenverkäufer schien sich zu wundern, dass sie das Museum zweimal hintereinander besuchte. Oder warum schaute er sie so komisch an? Wahrscheinlich kamen die meisten Besucher nur einmal hierher.
    Sie verbrachte eine Weile in der »Sala dei Nove« und ließ sich dann wieder auf einer Bank in der »Sala del Mappamondo« nieder.
    Sie wartete den ganzen Tag, beobachtete Museumsbesucher, ging immer wieder in den Freskensaal und gelangte allmählich zu der Einsicht, dass ihr Vorhaben sinnlos gewesen war. Sie harrte bis eine Stunde vor Schließung des Museums aus, stattete Lorenzettis Allegorie einen letzten Besuch ab und verließ das Museum vorzeitig. Es war kälter geworden. Dafür regnete es nicht mehr. Sie spazierte durch die abendlichen Gassen des Städtchens, blieb vor dem einen oder anderen Schaufenster stehen, ohne wirklich wahrzunehmen, was darin angeboten wurde, und hatte trotz allem das Gefühl, etwas Notwendiges getan zu haben.
    Die Figuren, die sie die letzten zwei Tage immer wieder betrachtet hatte, traten ihr dauernd vor Augen. Sie hatte nie das Bedürfnis gehabt, zu beten. Sie war nicht religiös. Überzeugungen, vor allem ethische und moralische, konnte sie sich nur aus der Vernunft hergeleitet vorstellen. Aber die Bilder hatten sie berührt.
    Sie betrat ein Café und bestellte einen Tee. Fast alle Tische waren besetzt. Die Leute unterhielten sich lautstark. Ein Fernseher an der Decke quakte vor sich hin. Aber Elin nahm den Lärm kaum wahr. Sie leerte ihre Taschen aus und begann, Quittungen und Eintrittskarten wegzuwerfen, die sich in ihren Anoraktaschen angesammelt hatten. Morgen würde sie die Rückreise antreten. Sollte sie die Eintrittskarten zum Museum aufbewahren? Als Souvenir? Sie nahm die beiden Tickets, die bereits zerknüllt im Aschenbecher lagen, wieder heraus und strich sie glatt. War das die von heute? Sie drehte das Ticket um und überprüfte das Datum. Ja. Das war die letzte.
20. Febbraio
stand da. Aber da stand noch etwas.
Via Santa Caterina 7.
Jemand hatte die Adresse mit blauem Kugelschreiber daraufgeschrieben. Sonst nichts. Nur diese Adresse. Via Santa Caterina 7.
    Sie ließ sich auf ihrem Stuhl zurückfallen und starrte die Eintrittskarte an, die sie noch immer in der Hand hielt. Dann erhob sie sich, packte ihre Sachen, bezahlte den Tee und bat den Kellner um eine Wegbeschreibung. Zehn Minuten später stand sie vor dem Haus mit der Nummer 7. Es gab nur eine grüne Holztür ohne Klingel. Sie klopfte. Nichts geschah. Sie klopfte erneut. Nach einer Weile hörte sie Schritte auf einer Holztreppe, dann öffnete sich die Tür. Ein Mann stand vor ihr und schaute sie an. Er trug jetzt keine Uniform, aber sie erkannte ihn trotzdem. Sie hatte ja heute
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