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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt
Autoren: A Brandhorst
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Eine Wahrheit wandelt über mir
Einer Wolke gleich –
Mit unsichtbaren Blitzen trifft sie mich.
    Der erste Schritt
    1
    E s ist der Träumer, der sich fragt: Schlafe ich oder bin ich wach? Es ist der Lügner, der sich fragt: Verbirgt sich Wahrheit in meinen Lügen? Und ist nicht die einzige Wahrheit unser Glaube?
    Es war der Kopf eines Toten – eines aus dem Jenseits Zurückgekehrten –, der diese Gedanken dachte, und es waren nicht einmal seine eigenen. Sie stammten von dem Psychomechaniker Lynton Hongeva Ayyad und waren Teil eines Mantras, das ihm, dem Wiederauferstehenden, helfen sollte, mit der Phase des Übergangs, der Rückkehr von den Toten – und auch dem Leben danach –, besser fertigzuwerden. So vage und hintergründig die Worte auch sein mochten, sie beschrieben den Zustand, in dem sich das erwachende Bewusstsein befand: nach der feinen Linie zwischen Wirklichkeit und Wirrnis suchend, um zu unterscheiden, zu kategorisieren, zu deuten und zu verstehen. Es gab zwei Welten, erinnerte sich der Träumer, mit einem wichtigen Unterschied: Die eine existierte außerhalb von ihm, und die andere war er selbst, eine Innenwelt, die einen Namen bekam, als er sich darauf konzentrierte: Rahil Tennerit. Ein Name, dachte er. Ein Name macht den Unterschied. Er zieht die Linie zwischen dem Hier und Dort; er gibt mir Identität und grenzt mich von der äußeren Welt ab. Der Name sorgt dafür, dass ich bin .
    Ich bin der Träumer, dachte der Lebende. Ich erwache.
    Er sah es nicht, spürte aber: Die äußere Welt war ein Uterus.
    Das, so erinnerte er sich, war äußerst ungewöhnlich. Er erlebte seine Wiedergeburt, die Phase des Wachstums – er spürte, wie Rumpf und Gliedmaßen seines Körpers feinere Strukturen gewannen –, die Übertragung des Images in ein jungfräulich leeres Gehirn, das memoriale Informationen empfing und ihnen das Verknüpfungsmuster von Neuronen und Synapsen entnahm. Er hätte schlafen, ganz ein Träumer sein sollen, aber stattdessen wusste er, dass er im Innern einer Maschine steckte, dass ihn die Technik der Hohen Mächte, der Ägide zur Verfügung gestellt, ins Leben zurückbrachte.
    Das Gehirn, mit dem er bereits dachte, nahm weitere Erinnerungen auf, und Rahil suchte in ihnen nach Hinweisen darauf, was ihn sein letztes Leben gekostet hatte. Es war nicht sein erster Tod gewesen; schon zum vierten Mal holte ihn die Technologie der Hohen Mächte ins Leben zurück.
    Wer oder was hatte ihn umgebracht? Das Image, das jetzt zu seiner Identität wurde, ein Back-up seines Bewusstseins, enthielt Erinnerungen an die Vorbereitungen für den Einsatz auf Heraklon, an eine Mission, die das Artefakt im hohen Norden des Friedensplaneten betraf. War er dort gestorben, auf dem Planeten, der zeigen sollte, dass die Menschheit es sechshundert Jahre nach dem Ereignis verdiente, in den Kreis der Hohen Mächte aufgenommen zu werden und Zugang zur Kosmischen Enzyklopädie zu erhalten? Mentale Kontinuität schien es nicht zu geben; zumindest hatte er noch keine Erinnerungen an den Einsatz. Das bedeutete: Man hatte seine Leiche nicht rechtzeitig – oder gar nicht – gefunden.
    Der Gedanke an die Enzyklopädie und ihr unentschlüsselbares Lied weckte in ihm eine seltsame, fast erschreckend intensive Sehnsucht. Er begriff, dass diese Sehnsucht (die Betonung lag auf der zweiten Silbe des Wortes) einer der Gründe war, warum er in seinen vorherigen Leben die Hilfe des Psychomechanikers Ayyad in Anspruch genommen hatte. Ein anderer, noch wichtigerer war …
    Jazmine.
    Der Name erschien in der Welt, die er selbst war, begleitet von einem Schmerz, so intensiv, dass sich Rahil zerrissen und zerfetzt glaubte. Aus dem anderen Universum, dem äußeren, kam eine Taubheit, die er als Schutzfunktion des Uterus erkannte – die Sensoren der Bioschmiede hatten einen hohen Stressfaktor festgestellt, und die Maschine, die ihn gebar, agierte mit selektiver neuronaler Stimulation – wie eine Rüstung oder Femtomaschinen – und versuchte, ihm den Schmerz zu nehmen.
    Er sitzt zu tief, dachte Rahil. Er sitzt so tief, dass es nicht einmal Lynton Hongeva Ayyad, der beste Psychomechaniker der Ägide, geschafft hatte, die Wurzeln auszureißen.
    Eine Zeit lang blieb es in allen Wahrnehmungsspektren »dunkel« – die Nervenverbindungen zwischen Sinnesorganen und Hirn schienen noch nicht komplett zu sein oder einer internen Interdiktion zu unterliegen, vielleicht als Bestandteil der Schutzmaßnahmen, mit denen der Uterus Rahils Schmerz
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