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Requiem für eine Sängerin

Requiem für eine Sängerin

Titel: Requiem für eine Sängerin
Autoren: Elizabeth Corley
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Der alte Mann starb. Er lag in einem blendend weißen Bett in einem Privatzimmer, weitab vom Lärm des Krankenhaustrubels. Über sein Bett hatte sich eine Stille herniedergesenkt, als wäre er bereits durch eine unsichtbare Glocke von der Welt abgeschirmt.
    Grelles australisches Sonnenlicht funkelte an den Rändern der dicht geschlossenen Jalousien und machte den Mangel an Farbe in dem Raum überdeutlich – weiße Wände, weißer Boden, weiße Jalousien, weiße Laken, weiße Haut, weißes Haar, weiße Lippen, blasse weiße Finger. Nur die Schatten verliehen den Zügen des Mannes Kontur. Er schwebte in einem traumähnlichen Zustand: Eben noch ein junger Mann, war er im nächsten Augenblick tot und blickte mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung auf den altersschwachen, vom Krebs zerfressenen Körper hinab, unfähig, in den bis auf die Knochen abgemagerten Gliedmaßen und dem aufgedunsenen Leib den Mann zu entdecken, der er einmal gewesen war.
    Seit Tagen war er dem Tode nahe, verweigerte jedoch die lindernde Betäubung einer starken Dosis Morphium. Die Ärzte und Schwestern hatten ihm Tag für Tag mehr geben wollen – aber er besaß das Geld und die Willenskraft, sich ihren Verordnungen zu widersetzen, und schien Qualen den Vorzug vor der Betäubung zu geben. Sie verstanden das nicht. Er war erst zweiundsechzig, sah aber aus wie neunzig. Ein Einwanderer fern seiner Heimat, allein, keine Familie, seine Frau längst tot. Die Ärzte und Schwestern wussten nicht, was ihn am Leben hielt; jedenfalls klammerte er sich an sein Delirium und widerstand der Versuchung, in einen letzten, ruhigen Schlaf hinüberzugleiten.
    Im Geiste war der Mann in einer fast zwanzig Jahre zurückliegenden Vergangenheit gefangen. In einem nicht enden wollenden Albtraum durchlebte er wieder und wieder dieselbe Woche seines Lebens. Jedesmal war er stummer Zeuge der Ereignisse, gelähmt und taub, nicht imstande einzugreifen. Jedesmal musste er mit ansehen, wie seine Tochter auf einem malerischen Klippenweg in den Tod ging.
    Sie drehte sich um, winkte – nicht ihm, sondern ihren Freundinnen – und ging weiter bergab, bis sie nicht mehr zu sehen war. Dann veränderte sich seine Perspektive: Er schwebte wie eine Möwe über ihr und versuchte, sie wegzutreiben von dem, was wenige Meter weiter auf sie wartete, doch seine krächzenden Schreie blieben ungehört.
    In seinem drogenumnebelten Zustand wurde der Krebsschmerz zu der Pein, die sich in seinen Arm-Flügeln ausbreitete, während er immer wieder über ihrem Kopf herabstieß. Die Trockenheit in seiner Kehle wurde zu dem heiseren Krächzen, das er von sich gab. Stunde um Stunde folgte er ihr im Halbschlaf denselben Weg hinab; seine Versuche, sie zu warnen, gerieten mit jedem Mal schwächer, das kalte Grauen aber, das ihre letzten Augenblicke begleitete, wurde mit jeder Wiederholung unbarmherziger.
     
    Den Hang hinunter, um die Kurve, und dort wartete jemand auf sie, verfolgte schweigend, wie zuerst ihr goldener Schopf und dann ihre ganze zierliche Erscheinung über der Anhöhe auftauchte. Das Gesicht der wartenden Gestalt konnte er aus der Vogelperspektive nicht sehen. Dunkel, schlank, athletisch – mehr war nicht zu erkennen –, aber seine Tochter wusste, wer das war. Lachend und mit ausgebreiteten Armen lief sie den steilen Weg hinunter in eine kräftige Umarmung. Zärtlich und vertrauensvoll blickte sie in das Gesicht, das er nicht sehen konnte.
    Er stieß panische Möwenschreie aus und schlug wild mit den Flügeln in dem Bemühen, sie zu warnen. Sie aber schloss die Augen und reckte das Gesicht einem Kuss entgegen. Sie wurde von der fremden Gestalt in einer geschmeidigen Bewegung hochgehoben und herumgewirbelt wie einst als kleines Mädchen von ihrem Vater – doch dann wurde sie losgelassen und flog über den Rand der Kalksteinklippe. Endlose Sekunden lang blieben ihre Augen geschlossen, ihr Lächeln lediglich verwirrt. Im letzten Moment schlug sie die Augen auf und schaute sich erschrocken um. Sie ruderte mit den Armen, das Gesicht von Todesangst verzerrt. Schließlich stürzte sie in den Abgrund, prallte auf Simsen des unnachgiebigen Kalksteins ab, brach sich auf einem zerklüfteten Felsvorsprung den Rücken, wurde durch den Aufprall weiter hinaus geschleudert – gelähmt, aber noch bei Bewusstsein –, fiel sechzig Meter in die Tiefe und blieb auf dem Geröll liegen.
    Der Vater stieß als Vogel mit angelegten Schwingen hinab, um seine Tochter festzuhalten, bevor eine Welle sie mit
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