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Torso

Torso

Titel: Torso
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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eine als falsch erkannte Situation hinzunehmen. Vielleicht lag es auch an seiner Krankheit, dass er so extrem auf meine Passivität reagierte. Er bedrängte mich, mit meinem Wissen an die Öffentlichkeit zu gehen, was ich ablehnte. Ich erklärte ihm, dass es eine Art organisiertes Verbrechen gibt, das ein wesentlicher Bestandteil der hiesigen Regierungsgewalt ist und daher für Strafverfolgung unerreichbar. Ich fragte ihn, aus welchem Grund ich denn eingreifen sollte. Es war Sommer. Ein paar hundert Meter von uns entfernt tobte die Love-Parade durch die Stadt. Das ist die Tendenz, sagte ich zu ihm. Das ist der Zeitgeist. Vulgarität und Gier, auf allen Ebenen. Was ging mich diese geile Masse an? Dieser mit Partydrogen ruhiggestellte Nachwuchs. Arm, aber sexy und offenbar völlig zufrieden damit. Schnäppchen und Party, Geiz und billig. Das ist doch der Treibstoff für diese verbrecherische Zukunftsfresserei. Das Wolfsrudel lädt zum Fressen, und alle gehen hin. Es ist ein mentaler Zustand. Was habe ich da verloren? Ich bin Polizist. Kein Psychiater.«
    Zollanger unterbrach sich. Elin wartete ab.
    »Nun ja«, fuhr Zollanger nach einer kurzen Pause fort, »lassen wir das. Georg jedenfalls, der für seine Überzeugungen von der Stasi radioaktiv verstrahlt worden ist, hatte für meinen Standpunkt natürlich nur tiefste Verachtung übrig. Gegen Mitte Oktober verschwand er ohne Vorankündigung aus meiner Wohnung. Ich wusste nicht, wo er sich aufhielt. Er hatte ein Kartenhandy, aber er war es, der entschied, wann er mit mir sprechen wollte und wann nicht. Zunächst hörte ich wochenlang nichts von ihm. Ich hatte nicht die geringste Ahnung von seinem absurden Vorhaben. Ich machte mir Sorgen um ihn. Aber was hätte ich tun sollen? Er war unauffindbar. Mitte November stellte ich fest, dass er mehrmals größere Geldbeträge von meinem Konto abgehoben hatte. Hatte er sonst noch etwas mitgehen lassen? Ich überprüfte alles. Dabei bemerkte ich an der Art und Weise, wie meine Papiere in meiner Brieftasche angeordnet waren, dass er sowohl meinen Führerschein als auch meinen Personalausweis benutzt haben musste. Georg hatte Geld gebraucht. Meinetwegen. Aber meine Papiere? Was wollte er damit? Sein Gepäck hatte er mitgenommen. Bis auf eine seiner beiden Mönchskutten, die er im Schrank hatte hängen lassen.«
    Zollanger lachte leise.
    »Jeder Anfänger hätte gemerkt, dass Georg irgendetwas plante. Aber ich kam nicht drauf. Wie auch. Er hat mir das Lorenzetti-Gemälde bei meinem Besuch damals gezeigt. Die gute und die schlechte Regierung. Ich habe damals spontan gesagt, dass diese Horrorfiguren als Warnung und Mahnung in jedes Rathaus und jeden Plenarsaal gehörten. Vor allem hier. Aber wie hätte ich ahnen sollen, dass Georg vorhatte, mich beim Wort zu nehmen, dass er plante, Lorenzettis Figuren aus Fleisch und Knochen wie eine düstere Prophezeiung in der Stadt zu verbreiten?«
    Elin dachte an die schockierenden Fotos der Anwältin zurück, die in ihrem Gedächtnis bereits verblassten. Doch Zollanger würde die Bilder nie loswerden.
    »Die Torsi waren natürlich an mich adressiert! Er wollte mich zwingen, Farbe zu bekennen. Er wusste, dass diese Leichenteile direkt auf meinem Schreibtisch landen würden. Ich würde diese grotesken Botschaften als Erster bekommen und als Einziger relativ schnell begreifen. Dann stünde ich vor der Wahl, meinen Bruder zu denunzieren oder selbst als Täter dazustehen. Das war der tiefere Sinn der Aktion. Gewiss spielte auch Sedlazek eine Rolle, einer seiner ehemaligen Peiniger, der ja heute eine dicke Kröte in der Kloake von diesem Zieten ist. Georg muss Sedlazek irgendwo wiedergesehen haben. Vielleicht hat ihn auch das so aufgebracht und ihm die letzten Skrupel genommen. Dass die Schlimmsten immer wieder davonkommen. Er stellte mir die Schicksalsfrage. Wer bist du? Darum ging es ihm. Es war eine Sache zwischen Brüdern, wenn Sie so wollen. Und dann kamen Sie dazwischen.«

[home]
73
    I m Erdgeschoss des Gasthofes war das Licht angegangen. Sina schaute auf die Uhr. Es war zwanzig nach sechs. Wenn Elin Hilger mit dem Fahrrad fuhr, konnte das Ziel ihrer Reise nicht weit entfernt sein. Wenn sie zu
ihm
unterwegs war? Doch warum saß sie selbst hier? Selbst gesetzt den Fall, dass Elin Hilger wusste, wo Zollanger sich aufhielt – wollte sie ihn wirklich noch einmal sehen? Wozu? Was hätten sie sich jetzt noch zu sagen? Er hatte sie nicht eingeweiht, ihr nicht vertraut. Er hatte sie benutzt, gegen alle
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