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Erinnerungen an eine Ehe: Roman (German Edition)

Erinnerungen an eine Ehe: Roman (German Edition)

Titel: Erinnerungen an eine Ehe: Roman (German Edition)
Autoren: Louis Begley
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I
    An einem Abend im Mai 2003, ein paar Tage nach George W. Bushs erstaunlicher Erklärung, die »Mission« sei erfüllt, ging ich ins New York State Theater, um mir eine Aufführung der New York City Ballet Compagnie anzusehen. Ich hatte auf ein reines Jerry-Robbins-Programm gehofft, und das stand auch auf dem Spielplan, aber erst zu einem Termin später im Monat. Leider lag der spätere Zeitpunkt für mich ungünstig – ich war am fraglichen Abend schon mit einem Freund aus Studentenzeiten, der sich gerade wieder verheiratet hatte, zum Dinner verabredet –, und ich musste mich mit einer Vorstellung begnügen, in der unter anderem die offizielle Premiere von Guide to Strange Places, wieder eine von Peter Martins’ hohlen Kreationen, zu sehen war. Die Musik von John Adams ließ mich kalt. Hätte Martins doch zugelassen, dass er uns als der phantastische Tänzer in Erinnerung bliebe, der er in seiner besten Zeit gewesen war, dass wir ihm weiter dankbar für seine Geschäftsführung der Compagnie sein konnten, dachte ich bei mir; wie schade, dass er stattdessen immer wieder Anlass zur Enttäuschung über seine Choreographie gibt. Da ich mich nicht auf die Tanzfiguren konzentrieren konnte, die das Ensemble zwar tadellos ausführte, die aber nach meinem Eindruck kein Ziel hatten, ließ ich meine Gedanken zu Jerome Robbins abschweifen. Meine Frau Bella und ich waren mit ihm eng befreundet gewesen, und er hatte uns regelmäßig zu Proben eingeladen. Wir schauten zu, wie er jedeSzene eines Balletts unermüdlich durchprobierte, wie er schimpfte, korrigierte, gut zuredete, bis endlich eine mysteriöse, für Bella und mich oft nicht wahrnehmbare Veränderung signalisierte, dass die Musik und der Tanz harmonierten und jetzt seiner Vorstellung entsprachen. Dann klatschte er in die Hände, drehte sich zu seinem Assistenten Victor um und sagte: Das ist es, sie haben’s gepackt, komm, lass uns essen gehen. Nach den Proben war Jerry immer wie ausgehungert. Dann begleiteten wir ihn und Victor ins Shun Lee, ein Chinarestaurant an der West Sixty-Fifth Street, wo Jerry, der im Alltag so frugal lebte, die mild gewürzten Kanton-Gerichte, die er liebte, eins nach dem anderen hinunterschlang. 1998, fünfzehn Jahre nach George Balanchine, starb er, und damit fiel der Vorhang, eine großartige, von ihrer Arbeit geprägte Ära in der Ballettgeschichte war vorbei. Ich war dankbar, dass ich zu ihren Lebzeiten so viel davon gesehen hatte, aufgeführt von Tänzern aus ihrer Schule. Ob die Compagnie die Meisterwerke, die diese beiden für sie geschaffen hatten, weiter so vollendet aufführen würde, wenigstens, solange ich noch lebte? Ich hoffte es.
    In der Pause holte ich mir an der Bar einen Whiskey und ging, da der Abend mild war, auf die Terrasse hinaus. Der Springbrunnen mitten auf der Plaza war noch nicht neu programmiert und ließ seinen Strahl also nicht in einem Rhythmus aufsteigen und fallen, der so kompliziert wie Fred Astaires Steptanz und nicht leichter zu entschlüsseln war, aber mir gefiel er trotzdem, und ich wurde nie müde, ihn anzusehen. Ich war bezaubert. Wie wunderbar, sagte ich mir wieder und wieder, was für ein Glück, dass ich zurückgekommen bin, um in dieser Stadt zu leben. Die längste Zeit hatte ich mich gescheut, mirund anderen zu gestehen, dass ich glücklich war. Mit diesem Geständnis hätte ich, dessen war ich mir sicher, die Götter herausgefordert, dort zuzuschlagen, wo ich am verletzlichsten war. Nicht mich zu treffen, sondern Bella oder unsere kleine Agnes. Doch die Strafe hatte mich schon ereilt, in vollem Ausmaß, und das Wenige, das von mir übrig blieb, war nicht mehr verwundbar. Wir hatten teils in Paris, teils in New York gewohnt, länger jedoch im Ausland, weil Bellas gesamte Familie dort lebte. Kurz nachdem wir wieder für eine Weile nach New York gekommen waren, wurde Agnes von einem herabfallenden Ast im Central Park erschlagen. Sie war sofort tot, und auch das Kindermädchen, das sie vom Kinderzoo nach Hause brachte, wurde schwer verletzt. Für unseren Kummer gab es keine Worte. Zwei Jahre oder länger konnten wir nicht über die Katastrophe sprechen, wir litten stumm und waren uns wortlos einig, dass wir kein Kind mehr haben wollten; niemand konnte Agnes’ Platz einnehmen, und wir wollten dem Schicksal nicht noch eine Geisel geben. Wir hielten uns von New York fern, wann immer es möglich war, und lernten, füreinander und für unsere Arbeit zu leben. Wir waren kaum je getrennt. Ich bin
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