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Tollkirsche und Korsett: Kates Hunger nach Freiheit (German Edition)

Tollkirsche und Korsett: Kates Hunger nach Freiheit (German Edition)

Titel: Tollkirsche und Korsett: Kates Hunger nach Freiheit (German Edition)
Autoren: A. G. Stoll
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Widerwillig öffnete sie die Augen. Ihr Atem bildete weiße Wölkchen. Vorsichtig streckte sie einen Fuß unter den Wolldecken hervor. Die Luft fühlte sich eisig an. Sie stöhnte. Ausgerechnet heute streikte die Dampfmaschine. Damit fehlte auch das bisschen an Wärme, das sich sonst durch den Wärmeschacht bis zu ihrem Zimmer durchkämpfte.
    Seufzend schälte sie sich aus den Decken. Sie setzte sich auf den einzigen Stuhl, zog die kratzigen Wollstrümpfe bis über die Knie hoch, befestigte sie am Strumpfband und schlüpfte in ihre ausgetretenen Schuhe.
Nun zog sie die Waschschüssel aus dem Wärmefach, das den Namen heute wahrlich nicht verdient hatte. Die Emaillebeschichtung der Schüssel war an etlichen Stellen abgeschlagen, doch dies störte nicht so sehr wie die dünne Eisschicht auf dem Wasser. Kate durchbrach sie mit dem Zeigefinger und schob die entstehenden Stücke hin und her. Kurz zögerte sie, dann entledigte sie sich ihres Flanellnachthemdes und der Unterwäsche, griff sich den Waschlappen und tauchte ihn ein. Schimpfen half zwar, doch selbst von der eher hastigen Wäsche kühlte sie aus.
    Endlich konnte sie sich mit dem fadenscheinigen Handtuch abtrocknen, das Brustleibchen anziehen und in die wollene Unterkleidung und ihr Winterkleid schlüpfen. Mit klammen Fingern zog sie ihre dicke Strickjacke über und band die Schürze um, bevor sie die restliche Toilette zu Ende brachte.
    »Soviel zu diesem Tag. Fängt schlecht an«, murrte sie und rieb sich die Arme, um wärmer zu werden.
    Jetzt folgte ihr Morgenritual: der Blick in die Freiheit. Sie zog den Stuhl über den abgetretenen Fußboden und stieg hinauf, um aus dem Fenster sehen zu können.
    Sie hauchte auf die Eisblumen an der Scheibe, bis ein kleines Loch entstand. Heute suchte sie vergeblich nach Flugschiffen am Himmel. Der Qualm der Schornsteine, der sich gerade zur Winterzeit wie eine dunkle Wolke über die Stadt legte, machte dies unmöglich. Schade. In ihren kühnsten Träumen sah sie sich in einem der Luftschiffe und ließ diesen traurigen Ort für immer hinter sich.
    Die fensterlose Rückseite des gegenüberliegenden Hauses, eine rußverschmierte Ödnis, versperrte jede weitere Aussicht in die Welt da draußen. Der Blick auf den Hinterhof zeigte nichts als übereinandergestapelte leere Holzkisten und Gerümpel, das sich über die Jahre angesammelt hatte und verrottete.
    Auf einem der Wäschepfähle hockte ein Spatz, das Gefieder aufgeplustert, um sich gegen die Eiseskälte zu schützen. Kate beneidete ihn um seine Federn und seine Freiheit.
    Einer der Wachhunde schlug an. Wild um sich schnappend sprang er am Pfahl hoch und verscheuchte den Vogel. Er war nur einer von vier scharf gemachten Schäferhunden, die einerseits das Haus vor Einbrechern bewachten und gleichzeitig Kate am Weglaufen hindern sollten. Ein Einfall Madames. Sie war der Meinung, einem Armenhäuslerkind dürfte keinerlei Möglichkeit gegeben werden, sich undankbar zu zeigen. Sobald Kate in die Nähe der Außentüren kam, führten die auf ihren Geruch abgerichteten Bestien sich auf, als wollten sie die dicken Türbohlen durchbeißen. Meist hielt Gustav die Tiere angekettet, doch nachts, oder wenn er und die anderen Angestellten außer Haus waren, durften sie frei herumlaufen.
    Endlich trollte das Tier sich.
    Kate knetete nervös die Hände. Angenommen, Madame ließ sie auch nach dem Erreichen der Volljährigkeit nicht gehen. Wie überlistete Kate dann die Hunde, um fortlaufen zu können? Ihr knurrender Magen lenkte sie ab. Sie machte sich auf zu frühstücken.
    Die Zimmertür knarrte beim Öffnen. Es war höchste Zeit, sie zu schmieren, da sie ab und zu heimlich nachts durch das Haus schlich. Eilig lief sie die drei Treppen hinunter und den düsteren Flur entlang bis in die Küche.
    Wärme empfing sie. Obwohl die Köchin bis zum Abend fort sein würde, ließ sie ein kleines Feuer im Herd brennen, was die beißende Kälte in Schach hielt.
    Kates Essen wartete neben der Spüle auf sie, gemeinsam mit der Flasche Lebertran und dem obligatorischen Becher Milch. Was sie von beiden mehr hasste, wusste sie nicht. Ihr Argument, sie sei mit fünfzehn Jahren zu alt dafür, wurde von Gustav nicht akzeptiert.
    Der Löffel steckte so fest im erkalteten Haferschleim, als wäre er festgewachsen. Kate stellte das Schüsselchen auf den Ofen.
    Nachdem sie erst vorsichtig eine Portion Lebertran in das Abflussloch des Abwaschbeckens geträufelt hatte, goss sie die Milch hinterher. Der erwärmte Brei
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