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Todesreigen

Titel: Todesreigen
Autoren: Jeffery Deaver
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besonders eilig. Es gab schließlich das Geld von der Versicherung. Und die Sparkonten. Das Haus war beinahe abbezahlt. Aber es ging ja nicht darum, dass sie arbeiten musste. Es ging darum, dass sie arbeiten wollte. Unterrichten. Oder Schreiben. Vielleicht würde sie einen Job bei einer der lokalen Tageszeitungen bekommen.
    Sie könnte sogar Medizin studieren. Sie erinnerte sich daran, wie Jonathan ihr manchmal von seiner Arbeit im Krankenhaus erzählt und sie alles problemlos verstanden hatte. Marissa hatte einen logischen Verstand und war eine brillante Studentin gewesen. Hätte sie damals die Graduate School besucht, dann hätte sie ein volles Stipendium für ihren Magisterabschluss erhalten können.
    Noch ein Glas Wein.
    Sie war traurig, dann wieder euphorisch. Ihre Stimmungen tanzten hin und her wie die orangefarbenen Bojen, mit denen man die auf dem Boden des grauen Ozeans liegenden Hummerfallen markierte.
    Der mörderische Ozean.
    Wieder dachte sie an den Mann, auf den sie in diesem romantischen, mit Kerzen beleuchteten Restaurant wartete.
    Ein Augenblick der Panik. Sollte sie Dale anrufen und ihm sagen, dass sie noch nicht dazu bereit wäre?
    Fahr nach Hause, trink noch ein Glas Wein, leg Mozart auf, zünde ein Kaminfeuer an. Sei zufrieden mit deiner eigenen Gesellschaft.
    Sie wollte schon die Hand heben, um den Barkeeper um die Rechnung zu bitten.
    Dann plötzlich kam ihr eine andere Erinnerung. Eine Erinnerung aus dem Leben
vor
Jonathan. Sie erinnerte sich daran, wie sie als kleines Mädchen auf einem Pony neben ihrem Großvater hergeritten war, der auf seinem großen Appaloosa saß. Sie hatte den hageren alten Mann beobachtet, wie er ruhig einen Revolver zog und auf eine Klapperschlange richtete, die sich zusammengeringelt hatte, um Marissas Shetland-Pony anzugreifen. Der plötzliche Schuss verwandelte die Schlange in ein blutiges Häufchen im Sand.
    Er hatte sich Sorgen gemacht, dass das Mädchen, das Zeugin des Todes geworden war, verstört reagieren würde. Als sie das Ende des Weges erreicht hatten, waren sie abgestiegen. Er hatte sich neben sie gehockt und ihr erklärt, sie solle nicht traurig sein – er habe die Schlange erschießen
müssen
. »Aber mach dir keine Sorgen, Schatz. Ihre Seele ist auf dem Weg in den Himmel.«
    Sie hatte die Stirn gerunzelt.
    »Was ist los?«, hatte ihr Großvater gefragt.
    »Das ist blöd. Ich will, dass sie in die Hölle kommt.«
    Marissa vermisste dieses robuste kleine Mädchen. Und ihr war klar, dass, wenn sie jetzt Dale anriefe und ihm absagte, sie bei einer wichtigen Prüfung versagt hätte. Es wäre genauso, als ließe sie zu, dass die Schlange ihr Pony biss.
    Nein. Dale war der erste Schritt, ein absolut notwendiger Schritt, um mit ihrem Leben ohne Jonathan voranzukommen.
    Und dann stand er vor ihr – ein gut aussehender Mann mit beginnender Glatze. Gut gebaut, wie sie bemerkte, in einem dunklen Anzug. Darunter trug er ein schwarzes T-Shirt, nicht das weiße Polyesterhemd und die fade Krawatte, denen man in dieser Gegend so häufig begegnete.
    Sie winkte, und er antwortete mit einem charmanten Lächeln.
    Er trat auf sie zu. »Marissa? Ich bin Dale.«
    Ein fester Händedruck. Den sie ebenso fest erwiderte.
    Er setzte sich zu ihr an die Bar und bestellte ein Glas Pinot Noir, schnüffelte genussvoll daran und stieß mit ihr an.
    Sie nippten an ihrem Wein.
    »Ich war mir nicht sicher, ob Sie es rechtzeitig schaffen würden«, sagte sie. »Manchmal ist es schwierig, die Arbeit dann zu verlassen, wenn man will.«
    Noch einmal sog er den Duft des Weines ein. »Ich bin im Prinzip mein eigener Herr, was die Arbeitszeiten betrifft«, erklärte er.
    Sie plauderten einige Minuten und gingen dann zum Pult der Hostess. Die Frau führte sie zu dem Tisch, den er reserviert hatte, und sie nahmen einander gegenüber am Fenster Platz. Von der Außenwand des Restaurants leuchteten Scheinwerfer auf das Grau des Wassers; zuerst beunruhigte sie der Anblick, ließ sie an Jonathan in dem mörderischen Ozean denken, doch sie schob diese Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf Dale.
    Sie unterhielten sich. Er war geschieden und hatte keine Kinder, obwohl er sich immer welche gewünscht hatte. Sie und Jonathan hatten ebenfalls keine Kinder bekommen, erklärte sie. Sie redeten über das Wetter in Maine und über Politik.
    »Waren Sie einkaufen?«, fragte er lächelnd. Mit dem Kopf deutete er auf die rosa und weiß gestreifte Einkaufstasche, die sie neben ihrem Stuhl deponiert
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