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Todesregen

Todesregen

Titel: Todesregen
Autoren: D Koontz
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ihrer Mutter eine Kerze anzuzünden. Neben dem Altar hatte Neil gestanden, um sich still von seiner Kirche zu verabschieden. In der komplexen Geometrie des Lichts, das durch ein buntes Glasfenster gefallen war, hatte sein Gesicht so vollkommen und freundlich ausgesehen, dass
sie ihn für eine Statue des Evangelisten Johannes gehalten hatte. Bis er sich bewegte.
    Als Silvester kam, feierte man den Anbruch des neuen Jahrs aus Achtung vor den Toten nur still, doch das Leben machte immer mehr Freude, Tag für Tag.
    Den ganzen Winter über und bis in der Frühling hinein staunte Molly immer wieder, wie unbelastet die Kinder sich verhielten. Sie hatten ihre Eltern und andere geliebte Menschen, die sie verloren hatten, nicht vergessen und sprachen oft von ihnen, aber vor Trauer und auch vor Albträumen schienen sie irgendwie geschützt zu sein. Sie erinnerten sich an die schrecklichen Dinge, die sie erlebt hatten, doch fast so, als hätten sie alles in einem Film gesehen. Mehr als die Erwachsenen besaßen die Kinder die Fähigkeit, im Augenblick zu leben, im Ruhepunkt der sich drehenden Welt, wo der Tanz des Lebens stattfand.
    Im April erfuhr Molly, dass sie schwanger war.

67
    An einem warmen Julitag saß Molly auf ihrer Terrasse über dem Meer, im Schatten einer flüsternden Phönixpalme. Sie war nun schon im vierten Monat schwanger, und sie hatte Muße, denn die Schule begann erst wieder im September.
    Auf dem Glastisch vor ihr lag eins der Bücher ihrer Mutter, das die Welt schon vor ihrem Ende vergessen hatte, während Molly es schätzte und von Zeit zu Zeit noch einmal las.
    Sie hatte das Buch weggelegt, als sie eine Anspielung auf Noah und seine Arche entdeckt hatte.
    Als Neil zu ihr trat, ein Tablett mit zwei Gläsern Eistee in den Händen, sagte sie: »Diese Geschichte von der Sintflut, der Arche, den Tieren, die paarweise an Bord gehen, der ganze Blödsinn aus dem Alten Testament … «
    Neil hob eine Augenbraue.
    »Ich hab jetzt nur zitiert, was Render in der Kneipe zu mir gesagt hat. Aber, Neil … findet man in der Geschichte von Noah eigentlich irgendeinen besonderen Grund dafür, dass die Erde gereinigt wurde, von Sünde, Selbstsucht und Götzenbildern einmal abgesehen?«
    Neil setzte sich mit seinem Glas in der Hand auf einen Sessel. Er hatte eine Biografie des irischen Dichters William Butler Yeats dabei, die er gerade las. »Einen Grund? Ich glaube schon. Eine Toleranz gegenüber Mord. «
    Molly verstand erst nicht recht, was er damit meinte.
    »Die meisten Menschen waren zu tolerant gegenüber Mordtaten geworden«, erklärte Neil. »Man hat sie nicht
schwer genug bestraft, ja sogar entschuldigt, wenn sie im Dienst utopischer Visionen geschahen. Wieso?«
    » Im Buch meiner Mutter war so eine Anspielung.« Molly deutete auf den Tisch. » Da hab ich mir Gedanken gemacht.«
    Neil nahm einen Schluck Tee und versenkte sich ins Leben von Yeats.
    Eine Weile blickte Molly starr über das Meer.
    Hitler hatte viele Millionen Menschen auf dem Gewissen, Stalin und Mao Zedong ebenfalls. In neuerer Zeit waren in Ruanda und im Sudan mehrere Millionen ermordet worden. Die Fälle von Völkermord und Massenvernichtung waren immer mehr geworden.
    Im Namen der Religion, der politischen Gerechtigkeit oder irgendeiner Ideologie, die angeblich eine bessere Welt schaffen wollte, war ein Massengrab nach dem anderen gefüllt worden, und wer von den Mördern war je bestraft worden, abgesehen von ein paar Nazis, denen man vor über einem halben Jahrhundert in Nürnberg den Prozess gemacht hatte?
    Über dem Meer schwebte keine einzige Wolke. Am fast unsichtbaren Horizont traf Blau auf Blau.
    In der alten Welt, die erst vor so kurzer Zeit verschwunden war, hatten die Nachrichten täglich über Selbstmordattentäter und Schießereien zwischen Straßengangs berichtet, über Männer, die ihre schwangeren Frauen umbrachten, Mütter, die ihre Kinder ertränkten, und Jugendliche, die ihre Klassenkameraden erschossen. Molly erinnerte sich, einmal gelesen zu haben, in den Vereinigten Staaten säßen wegen Mord oder Totschlag Verurteilte durchschnittlich gerade einmal sieben Jahre im Gefängnis.
    Render hatte nie ein Gefängnis von innen gesehen, nur sogenannte Nervenheilanstalten mit Therapeuten und Rosengärten.
    Je länger sie über diese Dinge nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass die psychologische Resistenz der Kinder
und ihre mangelnde Bereitschaft, über ihre schlimmen Erlebnisse nachzugrübeln, einem merkwürdigen Desinteresse der
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