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Das Lied der roten Erde (German Edition)

Das Lied der roten Erde (German Edition)

Titel: Das Lied der roten Erde (German Edition)
Autoren: Inez Corbi
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PROLOG  
     
    Irland, März 1787  
    Ein Vogel sang. Der Ton hallte klar und rein durch die Luft und brach sich an den steinernen Mauern des Kerkers. In dieser freudlosen Umgebung klang das Lied seltsam fehl am Platz.  
    Der Junge blinzelte. Licht fiel fächerförmig durch die Gitterstäbe. Das Stroh, auf dem er geschlafen hatte, roch faulig. Er erhob sich von seinem Lager und wischte sich ein paar zerdrückte Halme vom Körper. Entlang der Wände konnte er die zusammengekrümmten, schmutzigen Leiber seiner schlafenden Zellengenossen ausmachen. Das Huschen winziger Füße verriet die Ratten. Der Junge hatte sich noch immer nicht an sie gewöhnt, genauso wenig wie an den ständigen, nagenden Hunger. Der pappige Brei, den es zweimal am Tag gab, verdiente nicht die Bezeichnung »Essen«. Dennoch würgte er ihn hinunter. Es gab schließlich nichts anderes.  
    Das Licht war wunderschön. Wie es so durch das vergitterte Fenster schien, war es nahezu greifbar. Staubflocken und kleinste Teilchen trieben darin wie in einem nährenden Strom. Der Junge trat auf das Licht zu und streckte den Arm aus, badete seine Hand in ihm.  
    Ob sein Vater auch schon wach war und dieses Licht betrachtete? Der Junge hatte lange vor dem Gefängnis gewartet und gehofft, dass man seinen Vater freiließe. Bis man ihn selbst aufgegriffen und in diese Zelle geworfen hatte. Wie viele Tage das jetzt her war, wusste er nicht. Jedenfalls mehr, als er Finger hatte.  
    Ob ihre Leute auf sie warten würden? Oder waren sie schon weitergezogen, so, wie sie es immer taten, wenn sie an einem Ort nicht mehr erwünscht waren?  
    Als ein lautes Quietschen ertönte, zuckte der Junge erschrocken zusammen. Die schwere Kerkertür öffnete sich. Neben ihm richteten sich ein paar schlaftrunkene Gestalten auf. Ein Wärter spähte in den halbdunklen Raum.  
    »He«, rief er, als er den Jungen entdeckte. »Du bist doch der kleine O’Sullivan! Du kannst gehen.«  
    Seine Gebete hatten gewirkt! Der Junge trat freudig einen Schritt vor. »Wirklich?«  
    »Wenn ich es doch sage!«  
    »Und mein Vater?«  
    »Dein Vater?« Im düsteren Licht konnte er den Wärter kaum sehen, aber er bildete sich ein, dass der Mann die Schultern hob. »Hat es dir noch keiner gesagt? Den haben sie vorhin gehängt!«  
    Der Junge starrte den Mann an, sein Magen zog sich zu einem eisigen Klumpen zusammen. Er hörte die Worte, aber etwas in ihm weigerte sich, sie zu verstehen.  
    »Nein«, murmelte er. »Er hat doch nur ein Pferd gestohlen …«  
    »Nur ein Pferd? Kleiner, darauf steht die Todesstrafe! Anders wird man euch verbrecherischen Abschaum ja nie los. Und jetzt komm, raus mit dir!«  
    Das Licht, das durch das Fenster fiel, füllte jetzt die ganze Zelle aus und beschien die Gestalten der anderen. Einer der Gefangenen wisperte etwas, ein Gebet oder einen Fluch, doch der Junge achtete nicht darauf. Er stand wie erstarrt, konnte keinen Schritt tun. Sein Herz klopfte laut.  
    Dann stürzte die Welt über ihm zusammen.  

1.  
     
    Moira schreckte mit einem Ruck aus dem Schlaf. Sturm wütete vor ihrem Fenster im vierten Stock und rüttelte an den Fensterläden, die sie nicht geschlossen hatte, weil sie sich auf diese Weise weniger eingesperrt vorkam. Regenkaskaden peitschten gegen die Scheiben. Aber das war es nicht, was sie geweckt hatte. Stimmen, Schritte, das eilige Trappeln von Füßen, die auf den Treppen des schmalen Dubliner Stadthauses hinauf und hinunter liefen. Moira war jetzt hellwach. Sie schlug die Decke zurück, griff nach dem Zunderkästchen und entzündete die Kerze auf ihrem Nachttisch, dann warf sie sich einen Schal über ihr Nachthemd und eilte zur Tür.  
    Vergeblich. Natürlich war sie verschlossen, wie stets während der vergangenen Wochen. Sie versuchte, durchs Schlüsselloch zu spähen, sah aber nichts, da der Schlüssel von außen steckte. Sie legte das Ohr an die Tür, glaubte ihre Mutter zu hören, die mit durchdringender Stimme Anweisungen gab, und rüttelte am Türknauf.  
    »Mutter? Bitte mach auf!«  
    Niemand antwortete.  
    Wieder Schritte.  
    Moira verlegte sich aufs Klopfen. »Bitte, Mutter, öffne die Tür! Was ist denn los?«  
    Jemand drehte den Schlüssel, die Tür öffnete sich. Im Gang stand ihre jüngere Schwester Ivy, die blonden Haare zu einem losen Zopf zusammengefasst, einen Leuchter mit einer brennenden Kerze in der Hand.  
    »Gott sei Dank! Was ist denn los? Ich habe nur –«  
    »Vater«, unterbrach Ivy sie
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