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Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I

Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I

Titel: Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I
Autoren: Y.S. Lee
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Prolog
    August 1853
    Strafgerichtshof am Old Bailey, London
    S ie hätte lieber dem Richter zuhören sollen.
    Stattdessen war Marys Aufmerksamkeit auf die Fliegen gerichtet, die ihr auf der Anklagebank um die Beine surrten, angezogen von der abgestandenen Urinpfütze zu ihren Füßen. Die nicht von ihr stammte. Irgendein armer Teufel hatte wohl in einer Verhandlung früher am Tag die Kontrolle über seine Blase verloren, aber die Pfütze würde bleiben, bis   … tja, zumindest, bis ihr Fall längst abgeschlossen war.
    Seltsam, wie ihre Gedanken so abschweiften. In der Hitze des späten Nachmittags war das Summen der Fliegen das Geräusch, das sie am deutlichsten wahrnahm. Die näselnde Stimme des Richters kam wie aus weiter Ferne, von noch weiter weg als das anhaltende Gegacker eines Zuschauers auf der Tribüne. Wenn sie die Augen auf bestimmte Weise zusammenkniff, konnte sie einen Heiligenschein sehen   – wirr zerzaustes silbergraues Haar. War er verrückt? Oder nur erleichtert, dass da auf der Anklagebank jemand anderes saß?
    Der Staatsanwalt   – entstellt von seiner Perücke, aus der bei jeder Bewegung seines Halses weißer Puder stäubte   – hatte sich an ihrem Fall regelrecht ergötzt. Er hatte ihre Jugend betont: »Wie unglaublich verderbt muss eine so junge Person sein, die den Weg des Verbrechens bereits so weit und so rasch durchschritten hat   …?«, und auf ihr gefährliches Aussehen angespielt: »Solch pechschwarzes Haar ist Zeichen einer pechschwarzen Seele. Solch Übel sollte im Keime erstickt werden.« Und mit diesem Allgemeinplatz drückte er aus, dass man sie hängen sollte. Sie hatte nichts zu ihrer Verteidigung hervorgebracht. Sie hatte nichts zu sagen.
    Die Stimme des Richters, die durch das aufgeregte Brummen der Fliegen drang, klang plötzlich drohend. »Mary Lang, für das Vergehen des Einbruchs wirst du hiermit verurteilt, gehenkt zu werden, bis der Tod eintritt.« Der letzte Satzteil hörte sich an wie Spott. Was sollte denn sonst eintreten?
    Im Saal war ein leichtes Rumoren zu hören, wenn auch ohne Anzeichen von Erstaunen. Mary hob das Kinn und starrte unbeirrt zur Tribüne hinauf. Die Zuschauer dort wirkten gedrückt von der spätsommerlichen Hitze. Nur eine Gestalt   – eine Frau, die Trauerkleider trug und den Schleier ihres Hutes etwas zurückgeschlagen hatte   – erwiderte ihren Blick. Und zwinkerte ihr zu.
    Mary blinzelte verwirrt. Als sie wieder genau hinsah, war die Dame verschwunden. Dann zerrte die Aufseherin sie aus der Anklagebank und führte sieaus dem Gerichtssaal, einen langen Gang entlang, in dem es nach Kot und Zwiebeln stank, hinunter in die klamme Feuchtigkeit des Kerkers.
    Die Aufseherin umfasste mit ihrem kräftigen Arm Marys Schultern und schubste sie unsanft vor sich her. »Jetzt mach mir bloß nicht schlapp, junge Frau.« Ihre Stimme war rau und ihre Aussprache hatte den breiten Dialekt der westlichen Grafschaften.
    Mary, die mit so etwas nicht gerechnet hatte, stolperte leicht. »Keine Sorge«, murmelte sie, doch die Frau knuffte sie erneut, und zwar so heftig, dass ihr fast die Knie einknickten.
    »Der Herr sei deiner kläglichen schwachen Seele gnädig!« Im Schutz ihrer Röcke trat die Aufseherin nach Marys Fuß, sodass diese erneut strauchelte. »Barmherzigkeit, du mickriges Gör, mach mir jetzt keine Scherereien!«
    Inzwischen waren sie fast bei dem Schließwärter angekommen. Mit festem Griff verdrehte die Aufseherin Mary hinter ihrem Rücken das linke Handgelenk. Die eisernen Handfesseln schnitten dem Mädchen ins Fleisch, sodass es überrascht nach Luft schnappte. Grob schüttelte die Aufseherin sie bei den Schultern und redete gleichzeitig ohne Unterlass auf den Schließwärter ein. »Das dumme Ding wird mir ohnmächtig! So ein Feine-Damen-Getue kommt mir nicht infrage, das steht mal fest!« Ihre durchdringende Stimme übertönte die Rufe der anderen Gefangenen. »Die muss mal ordentlich in den Pferdetrog getunkt werden!«, keifte die Aufseherin empört.
    Mary ließ sich zu Boden sacken. Was machte es jetzt denn noch aus, eine Viertelstunde länger drangsaliert zu werden? Sie wurde nach draußen bugsiert, über den gepflasterten Hof, wobei die Aufseherin nicht aufhörte, zu schimpfen und sie unsanft zu schütteln. Einige Männer versammelten sich unter der Tür und grinsten über das Schauspiel. Als die Aufseherin, die Mary weiterhin fest im Griff hatte, bei dem Trog in der Ecke des Hofes ankam, zog sie einen Lappen aus der Tasche und
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