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Todesformel

Todesformel

Titel: Todesformel
Autoren: Verena Wyss
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atme, der Moment des Zustechens ist vorbei, ich muss gehen können.
    Im Dämmerlicht stehen wir zwischen den Pflanztischen. Die schattierenden Strohmatten verdecken jede Sicht nach draußen, wir sehen nur das blendende Viereck der Tür. Im Hintergrund gurgelt die Wasserkiste. Stille, wir warten. Mit einem Blick schräg nach hinten sehe ich knapp an meinem Hals die offene Spritze, demonstrativ, gut sichtbar. Jetzt denke ich zum ersten Mal, sie ist verrückt. Das ist nicht beruhigend. Kleiner als ich, doch verrückt, ich höre ihren stoßweisen Atem. Was nützt mir in dieser Lage meine bessere Kondition?
    Jetzt eine sich überschlagende Stimme, laut, sie haben ein Megaphon. Das ist Claas’ Stimme, was schreit er denn, was brüllt er: »Lassen Sie die Spritze fallen und lassen Sie Frau Bach los! Gehen Sie nicht weiter zurück, keinen Schritt! Gehen Sie nicht zurück, versuchen Sie nicht, durch die rückwärtige Tür ins Haus zu gelangen, bleiben Sie stehen! Gehen Sie nicht rückwärts!« Ist er denn blöd? Genau das veranlasst sie, mich jetzt rückwärts zu zwingen, langsam, Schritt für Schritt. Noch immer bin ich ihre Deckung. Diese Hilflosigkeit, ich kann kaum atmen vor Angst. Sollte jemand im Viereck der Tür auftauchen, bevor wir den Hinterausgang erreichen, gibt es ein Unglück. Jetzt drängt sie uns am Kaktus vorbei. Beim schmerzhaften Stich in den Oberarm weiß ich, sie hat es getan, letal. Doch das Schreien ist nicht von mir, sie schreit wie eine Katze so schrill. Der harte Druck auf meiner Schulter hat nachgelassen, sie hat losgelassen, mein Arm brennt wie Feuer, doch ich fühle keinerlei Lähmung und keine Schwäche, keinen Herzstillstand – es ist der Kaktus! Sie hat sich in den Kaktus gedrückt, in meinem Arm steckt ein Kaktusstachel, keine Todesspritze. Vorsichtig schaue ich mich um. Sie krümmt sich mit verzerrtem Gesicht, kauert sich wimmernd neben die Wasserkiste, es hat sie erwischt. Die Spritze liegt am Boden. Ich hebe sie auf, halte sie sorgfältig von mir weggestreckt in der Hand. Die Pistole. Chantal Platen-Alt muss halb besinnungslos sein vor Schmerzen. Sie achtet gar nicht darauf, dass ich die Pistole aus ihrer Umhängetasche ziehe. Halt, ich nehme auch die Hülle, stecke sie in die Innentasche meiner Weste. Sie wimmert, versucht, meine Hand zu fassen, nur weg von ihr. Ich laufe zur Tür, denke, wenn bloß niemand schießt, taumle ins helle Licht.
    Claas ist es, der mich auffängt, unterfasst, stützt, halbwegs zum Kücheneingang trägt. Ich bin etwas zu groß fürs Getragenwerden. Vor Schmerzen laufen mir jetzt Tränen über das Gesicht.
    »Bist du okay? Es ist alles vorbei. Reg dich nicht auf, Alja ist da. Noël ist bald in Sicherheit, Knut ist dort.«
    Meine Stimme ist ein Flüstern: »Ich habe Gift im Arm, das tut grauenhaft weh, Kaktusgift, ich sterbe, Noël lebt.«
    Claas wischt mir ganz rasch über das Gesicht, schaut mich intensiv an: »Ein Stachel, ein einziger? Kleine Jennifer, du stirbst nicht.« Unter der Tür übergibt er mich Alja. »Alja, hast du ›Aspirin‹? Gib ihr drei mit viel Wasser. Sven sagt, die
    Platen hat es echt erwischt. Ruf die Sanität, sie sollen in einer halben Stunde hier sein, dann kriegt sie ihre Antihistamine. Jetzt holen wir sie und sie macht uns ihr Geständnis.« Fast schon im Wegrennen meint er noch: »Aljas Kaktus ist nicht tödlich, ich kenne mich aus, nur entsetzlich schmerzhaft. Jennifer, ich liebe dich.« Ich fühle mich verwirrt.
    Wir sehen ihm nach, wie er zurückrennt, schon verschwindet er wieder im Glashaus. Da ist Sven. Er kommt um die Hausecke gerannt, rennt an uns vorbei, ihm nach. Wir hören Claas’ Stimme: »Niemand soll in die Nähe kommen, hier drin ist ein gefährlicher Kaktus, ein guatemaltekischer Pfeilkaktus, der tödlich ist.« Wo sind die Polizisten, die Scharfschützen?
    Alja führt mich in die Küche, letal her oder hin, ich taumle und sehe alles doppelt. Ich weiß jetzt, was Schmerzen sind. Sie dürfen Noël nichts tun. Alja sagt erklärend. als wäre es etwas Alltägliches: »Sven hat hinter der Durchgangstür zum Obstkeller gewartet, falls sie doch so verrückt gewesen wäre, durchzukommen, er hätte sie von hinten niedergeschlagen, das war jetzt Gott sei Dank nicht nötig.«
    Sie setzt mich in den Korbstuhl am Küchentisch, gießt Wasser in ein Sirupglas, stellt das Glas vor mich auf den Tisch, legt die Tabletten daneben. »Wir hofften, du kriegtest nichts ab. Jetzt schluckst du drei davon, das schadet nicht und blockt
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