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Todesformel

Todesformel

Titel: Todesformel
Autoren: Verena Wyss
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bewegen, stütze mich von jetzt an auf Ihre Schulter.« Grob packt sie meine Schulter, hält mich mit hart drückenden Fingern fest. »Zu Ihrer Information, in der rechten Hand halte ich jetzt eine offene Spritze mit einer letalen Dosis für ein Körpergewicht von siebzig Kilo. Der Effekt ist ein Kreislaufkollaps, Sie werden eine kleine Schwäche spüren. Nicht hier, die Übergabe der CD-ROM findet sowieso an einem anderen Ort statt.« Ich denke an Aljas Feldstecher, kann mir nicht vorstellen, dass diese Killerin die Spritze wie einen Spieß vor sich in der Hand hält. Wer die Szene sieht, sieht keine Pistole, sieht also nichts. Ich denke an meinen ›Jeep‹, der so gut versteckt im Wald steht. Wir werden nicht dorthin zurückgehen.
    Es wäre zu blöd, unter den Augen meiner Freunde tot umzusinken, und sie dächten noch, es wäre die Aufregung gewesen.
    Ich denke an Aljas immer so perfekt verschnürtes Zeitungsbündel, wer diese Knoten macht, kennt die Morsezeichen. Knut hat sie mich gelehrt, doch mit Knut rechne ich nicht, den wünsche ich mir in Noëls Nähe.
    »Ich weiß, der Schlüssel beginnt in der vorderen Ecke des Buchsgartens. Das Schrittmuster habe ich im Kopf, wir müssen es abschreiten, verlieren so keine Zeit.« Sie zweifelt scharf. Ich erläutere, aus Vorsicht vor Satellitenbildern haben wir bisher nicht nachgeprüft, ob die CD-ROM auch wirklich hier ist, doch wir gehen davon aus. Jetzt treibt sie mich zur Eile an.
    Alja, Sven, Claas, sie müssen erfassen, was ich tue, also langsam: In der Ecke angekommen wenden wir uns zurück, entsetzt sehe ich eine reale Spritze in der locker auf der Umhängetasche liegenden Hand. Sie bemerkt meinen Blick: »Ich wünsche Ihnen sehr, dass Ihre Angaben stimmen.« Vom oberen Fenster aus sind wir jetzt gut zu sehen.
    »Ich gehe jetzt das Schrittmuster, Sie lassen dazu besser meine Schulter los.« Ich starte mit einem Anschritt, gehe sehr langsam und konzentriert die Morseschritte, der linke Fuß die kleinen Schritte, der rechte Fuß die großen, Seitenschritt für jeden Buchstaben. Chantal Platen-Alt ist nicht der Typ, der zum Spaß Morsen gelernt hat: ›S.P.R.I.T.Z.E.‹, jetzt habe ich erst die halbe Strecke bis zur Sonnenuhr abgeschritten, also Zwischenschritte, und es folgt: ›L.E.T.A.L. ‹
    Ich konzentriere mich.
    Chantal Platen-Alt sucht Schritt zu halten dicht an mir, auf der Hut vor Scharfschützen. Wenn ich bloß wüsste, wie ich ihr entkomme.
    Wir sind da.
    Ich gehe um die Sonnenuhr herum. Das Fach muss in diesem Sockel sein: die niedere Standsäule aus gelbem Sandstein, oben im Stein eingelassen die römischen Stundenzahlen, Messing, blinkend. Alja muss sie auch in diesem Frühling poliert haben. Wie, hat sie gesagt, hat sie dieses Fach entdeckt? In der Mitte die Messingplatte mit der Inschrift in zierlichen französischen Buchstaben ›sol invictus‹, die Sonne ist unbesiegt. Ich bücke mich, betaste den körnigen Stein, fasse ihn, schiebe, rüttle – er ist nicht zu bewegen. Ich betaste die Messingplatte, suche sie am schmalen Rand zu fassen, zu drehen, hochzuziehen. Ich untersuche den seitlich befestigten Schattenstab: Das alles ist bestes Handwerk; da ist nirgends eine Lücke, keine Spalte, nichts; stabiler geht es nicht.
    Die Stimme neben mir erschreckt mich: »Ich wünsche Ihnen, dass Sie bald Erfolg haben«, drohend. Sie steht dichtest neben mir.
    Ich knie nieder, betaste den Stein rundum. In der Gefahr fliegen die Gedanken ineinander. Charlotte Platen muss diese Uhr hierher geschafft haben. Vielleicht ließ sie sie anfertigen. Sie hat das Versteck Meret gezeigt, als sie klein war. Meret muss ein feines Gesichtchen gehabt haben, mit großen Augen. An Ostern hat Meret die CD-ROM hierher gebracht. Jetzt kann ich hier knien, weil sie mich vor fünfunddreißig Jahren nicht abgetrieben hat. Damals ist sie aus England an diesen Ort gekommen, hat mich hier geboren, hat die Plazenta unter dem Maulbeerbaum vergraben lassen. Jetzt steht ein Mensch ohne Gewissen und ohne Gefühle hinter mir, will mich töten, hat auch das Leben meines Kindes in der Hand, denn ich ließ mich hereinlegen. So gemein ist das Leben. Ich denke an den Film, diesen selektiven Giftstoff, die zuckenden verendenden Menschen. Alle diese Soldaten, die damit in den nächsten Kriegen töten und getötet werden, haben Mütter. ›Sol invictus‹ – wie zynisch, denn wenn ich jetzt nach dem ›v‹ fasse für ›victoria‹, dann ist es meine Kapitulation vor der Gewalt. Mein Gott, warum
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