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Todesformel

Todesformel

Titel: Todesformel
Autoren: Verena Wyss
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wies nicht in Richtung der Felsnase. Auch Jennifer Bach zeigte keine besondere Reaktion, übernahm jetzt den angeleinten Hund, lie ß ihn vor sich hergehen. Alle drei bewegten sich in Richtung der kleinen Passhöhe, die Berken zuhinterst bückte sich hin und wieder. Was sammelt die nur, es schneit doch, der Boden ist ja schon ganz wei ß. Noch zielte er auf ihren Rücken, wobei er sich sicher war, sie hatte nichts entdeckt, ein Hundespaziergang. Ein Gl ü ck f ü r beide wie f ür ihn, er hä tte sie erschie ßen müssen. – Es hätte ein unsinniges Aufsehen gegeben, der falsche Mo ment, der falsche Ort. Blo ß keine Aufmerksamkeit in diese Gegend lenken. Fred Roos zerlegte das Gewehr, steckte es in das Halfter, schloss den Allwettermantel darüber. Bisher war alles exakt nach Plan gelaufen. Wenn etwas schiefginge, es wä re sein Fehler. Wegen dieses K öters muss er jetzt noch einmal hoch, zur Kontrolle.

DRITTER VORSPANN
    Samstag vor Palmsonntag, nachts zehn Uhr
    Alja schleppte das Bike die Kellertreppe hoch. Kontrollierend befingerte sie die Ventile – nach dem Winterstand waren die Reifen weich, sie pumpte. Vor dem Eingangsspiegel zog sie das orangerote Stirnband tief in die Stirn. Ihr Gesicht wirkte dadurch rund wie ein Vollmond, die weichen Wangen konturlos, die schmale Nase noch spitzer, die sonst grünen Augen groß und dunkel, der Mund seltsam klein. Energisch schloss sie die Reißverschlüsse ihres schwarzen Regenanzugs, der etwas satt über ihren runden Hüften lag, die glänzenden Silberstreifen waren vor allem in der Dunkelheit gut sichtbar. Sie schnürte die festen Schuhe, schlüpfte in die dicken schwarzen Lederhandschuhe, steckte den Pfefferspray ein – alte Frau Rad fahrend, sie kann nicht anders – der Mund verzog sich, um ein Haar hätte sie sich zugelacht: eine Clownin, nicht ernst zu nehmen. Man musste es einfach so sehen.
    Schon schob sie das Rad über die geschotterte Zufahrt, klickte den Dynamo ein, stieg auf. Der Lichtkegel zuckelte vor ihr her ü ber nassgl änzende Steine des Feldwegs, dann radelte sie auf der schmalen geteerten Stra ße den Berg hoch; nicht aus der Puste kommen, nicht so heftig treten. Was hätte sie zu verlieren – ein eher altes Leben, salopp ausgedrückt, alt ist relativ, je nachdem. Gut, den Garten, das Denken, da sollte sie noch l änger dran sein, dass es sinnvoll würde, dass sie zu diesem bestimmten Punkt gelangte, sie f ühlte sich dem so nah, Durchblick, Einsicht, ›was die Welt im Innersten zusammenhält. Sie argumentierte, wie sie das immer tat, wenn sie etwas tat, das sie nicht tun sollte, oder wenn es gef ährlich wurde. Oder wenn sie etwas tat, dessen Gef ährlichkeit sie nicht abschätzen konnte. Sie konnte es offensichtlich nicht lassen.
    Sie hustete, keuchte, wie anstrengend es war. Sie wiederholte, Dauer und Kraftaufwand waren relative Größen, kü rzer als auf der Bergstra ße war der Waldweg auf jeden Fall, schneller würde es ganz sicher auf der Rückfahrt sein. Hier, in der Kurve bog sie in einen schmalen Pfad ein, klinkte den Dynamo aus, holperte in die Schwärze des Waldes, ohne Licht, ihre Augen waren noch immer nachttauglich, als hätte sie Katzen- oder Pilotenaugen. Wenn man immer wü sste, was einen treibt, etwas zu tun – da lie ße sich das Schicksal erkennen.
    Kein Nicht-Ortskundiger wäre nachts hier unterwegs, auch kein Ortskundiger. F ür andere wäre es viel zu heikel, die Stelle zu finden, und um diese Zeit hier oben zu sein, wä re bei jedem verd ä chtig, viel zu auff ä llig. F ür sie galt das nicht. Sie streifte doch gern in der Gegend umher, war im Sommer oft mit dem Rad unterwegs, das wusste jeder. Auf der Krete war sie nachts noch nie gewesen, eben.
    Die letzten f ünfzig Meter ohne Rad waren die dümms ten. Sie f ühlte sich schutzlos. Rennen, hineingreifen, zupacken, ein Karton. Was immer das war, sie schob es unter den Pullover, wieder rennen und hopp auf das Rad und ruckend und holpernd in der Nacht verschwinden. Da war niemand.
    Die Rü ckfahrt auf dem schmalen Waldweg war gef ährlich, nur nicht stürzen, bei alten Knochen war der Oberschen kelhals gef ährdet, das Schlüsselbein zwar auch, doch wer fiel schon auf das Schl üsselbein – nur niemandem begegnen. Jetzt war sie wieder auf der richtigen Stra ße. Krampfhaft dachte sie: vorbeisausen, bevor jemand merkt, dass da jemand kommt. Sie orientierte sich an der Helligkeitsschneise des Himmels zwischen dunklen Waldbäumen. Nur kein Reh ü ber den Haufen fahren.
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