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Tod in den Wolken

Tod in den Wolken

Titel: Tod in den Wolken
Autoren: Agatha Christie
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um die Kaffeestunde mehreren Mitreisenden aufgefallen war. Mutete das allein nicht schon ziemlich sonderbar an? Ich baute mir eine gewisse Theorie des Verbrechens auf. Der Mörder zeigte der Welt zwei getrennte Lösungen der Tragödie. Nach der ersten und einfachsten war Madame Giselle von einer Wespe gestochen worden und an Herzschwäche gestorben. Der Erfolg jener Lösung hing davon ab, ob der Verbrecher imstande war, sich den Dorn wieder anzueignen. Inspektor Japp und ich stimmten darin überein, dass es sich unschwer ermöglichen ließ – solange noch niemand etwas Unlauteres argwöhnte. Ich stutzte auch über das schwarzgelbe Seidenflöckchen, das man zweifellos absichtlich mit dem kirschroten vertauscht hatte – eben um eine Wespe vorzutäuschen.
    Unser Mörder näherte sich also dem Tisch seines Opfers, stößt ihm den Dorn in den Hals und lässt die Wespe frei. Das ungemein starke Gift würde den Tod auf der Stelle herbeiführen. Sollte Giselle aufschreien, würde es vermutlich infolge des Dröhnens der Motoren nicht gehört werden. Und sollte es wider Erwarten doch jemand hören – nun, so erklärte ja die umhersummende Wespe den Schrei. Die arme Frau war eben gestochen worden.
    Das war, wie gesagt, Plan Nr. 1. Angenommen jedoch, dass – wie es tatsächlich geschah – der vergiftete Dorn entdeckt wurde, bevor der Mörder seiner wieder habhaft werden konnte? Für diesen Fall hatte er ein zweites Eisen im Feuer. Die Theorie des natürlichen Todes scheidet aus. Anstatt sich des Blasrohrs zu entledigen, stopft er es unter einen Sitz, wo es bei der Durchsuchung des Flugzeugs von der Polizei gefunden werden muss. Und natürlich nimmt diese sofort an, dass jenes Blasrohr ein Werkzeug des Verbrechens gewesen sei. Damit wird die Vorstellung von einem ‹Mord auf Distanz› geweckt: Der Verdacht wird in eine vorher sorgsam ausgeklügelte Richtung gelenkt.
    Mich aber ließ das Problem der Wespe nicht los. Wenn der Mörder die Wespe mit ins Flugzeug gebracht hat und sie im psychologisch richtigen Moment fliegen gelassen hat, so musste er einen kleinen Behälter für sie gehabt haben.
    Daher meine Wissbegier hinsichtlich des Inhalts der Taschen und des Handgepäcks der Passagiere.
    Und hier setzte eine völlig unerwartete Entwicklung ein. Ich fand, wonach ich suchte – aber, so schien mir, bei der falschen Person. In Monsieur Gales Tasche steckte eine leere Streichholzschachtel.
    Indessen war Norman Gale laut einstimmiger Zeugenaussagen nie den Mittelgang des Abteils entlanggeschritten, sondern nur aufgestanden, um die Toilette aufzusuchen, und alsdann zu seinem Platz zurückgekehrt.
    Dessen ungeachtet gab es ein Verfahren, durch das Gale das anscheinend Unmögliche vollbracht und das Verbrechen verübt haben konnte – wie der Inhalt seines Handkoffers zeigte.»
    «Mein Handkoffer?», fragte der junge Zahnarzt, und seine Miene spiegelte Belustigung und Ratlosigkeit wider. «Ehrlich gesagt, erinnere ich mich gar nicht mehr genau, was er alles enthielt.»
    Poirot schenkte ihm ein liebenswürdiges Lächeln.
    «Nur eine Minute Geduld! Ich werde noch darauf zu sprechen kommen. Vorderhand aber schildere ich Ihnen meine ersten Ideen.
    Vom Standpunkt des Möglichen aus gesehen, hatte ich also vier Personen, die Madame Giselle ermordet haben konnten: die beiden Stewards, Clancy und Gale. Jetzt jedoch betrachtete ich den Fall aus einem anderen Blickwinkel – jenem des Motivs. Wenn ein Motiv mit einer Möglichkeit zusammentrifft – ha, dann habe ich meinen Mörder! Doch leider vermochte ich nichts Derartiges zu finden. Mein Freund Japp hat mich – übrigens nicht zum ersten Mal – beschuldigt, dass ich mir darin gefiele, die Dinge schwieriger zu gestalten, als sie sind. Ganz im Gegenteil, ich gab dieser Frage nach dem Motiv die allerschlichteste Fassung. Wem würde es zum Vorteil gereichen, wenn Madame Giselle nicht mehr lebte?
    Unbedingt ihrer unbekannten Tochter, da diese ein Vermögen erbte. Dann stieß ich auf gewisse Personen, die sich in Giselles Hand befanden – oder sagen wir lieber, die sich möglicherweise in ihrer Hand befanden. Damit sah ich mich dem Problem der Auslese gegenüber. Nur bei einem einzigen Passagier des Flugzeugs konnte ich feststellen, dass er Beziehungen zu der ermordeten Französin gehabt hatte: bei Lady Horbury.
    In Lady Horburys Fall lag das Motiv offen zu Tage. Sie hatte Giselle am Abend zuvor in Paris besucht, vollkommen verzweifelt. Und sie besaß einen Freund, einen jungen
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