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Der Rote Sarg

Der Rote Sarg

Titel: Der Rote Sarg
Autoren: Sam Eastland
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A uf der Motorradbrille blitzte das Sonnenlicht, als der Fahrer den Hügelkamm erreichte. Er trug zum Schutz gegen die ersten kühlen Frühlingstage einen zweireihigen Ledermantel und eine unter dem Kinn geschnürte Lederhaube.
    Seit drei Tagen war er unterwegs. Er hatte nur zum Tanken angehalten, die Satteltaschen waren voll mit Konservendosen, die er als Proviant mitgenommen hatte.
    Er übernachtete nicht in den Städten, sondern schob das Motorrad zwischen die Bäume. Es war eine neue Maschine, eine Zündapp K500 mit Pressstahlrahmen und doppelt gefederter Pressstahlvordergabel. Normalerweise hätte er sich so ein Motorrad nie leisten können, aber allein diese Reise würde mehr als genug einbringen. Daran dachte er, als er allein im Wald saß und kalte Suppe aus der Dose löffelte.
    Bevor er das Motorrad mit ein paar abgebrochenen Ästen tarnte, wischte er den Staub vom gefederten Ledersitz und dem großen, tropfenförmigen Tank. Er spuckte auf jeden Kratzer, den er entdeckte, und polierte ihn mit dem Ärmel blank.
    Er schlief auf dem nackten Boden, eingewickelt in eine Wachstuchdecke, und gönnte sich kein Feuer, noch nicht einmal eine Zigarette. Der Rauch hätte ihn verraten können; ein Risiko, das er nicht eingehen durfte.
    Manchmal wurde er vom Dröhnen polnischer Armeelaster geweckt, die auf der Straße vorbeifuhren. Keiner hielt an. Einmal hörte er ein Knacken zwischen den Bäumen. Er zog seinen Revolver aus dem Mantel und setzte sich auf. Ein Hirsch zog nur wenige Meter an ihm vorüber, kaum sichtbar, als wäre ein Schatten zum Leben erwacht. Die restliche Nacht schreckte er immer wieder hoch. Kindheitsalpträume mit geweihtragenden Menschengestalten plagten ihn. Er wollte nur noch raus aus diesem Land. Seit dem Überschreiten der deutsch-polnischen Grenze hatte er Angst – auch wenn das keinem, der ihn gesehen hätte, aufgefallen wäre. Er war nicht zum ersten Mal auf einer solchen Reise; er wusste aus Erfahrung, dass die Angst ihn nicht mehr verlassen würde, bis er wieder zu Hause war.
    Am dritten Tag überquerte er die Grenze zur Sowjetunion. Er hatte sich einen abgelegenen Kontrollpunkt gesucht, bewacht von einem polnischen und einem russischen Soldaten, von denen keiner die Sprache des anderen verstand. Beide bewunderten sein Motorrad. »Zündapp«, hauchten beide, als würden sie den Namen ihrer Geliebten aussprechen. Er musste schwer an sich halten, als sie mit den Händen über den chromverkleideten Tank strichen.
    Wenige Minuten nach dem Grenzposten fuhr er an den Straßenrand und schob die Brille auf die Stirn; dort, wo sich der Staub der Straße nicht festgesetzt hatte, wurden zwei blasse Hautmonde sichtbar. Er beschattete die Augen und ließ den Blick über die hügelige Landschaft schweifen. Die Felder waren gepflügt und geeggt, Roggen- und Gerstensamen schlummerten in der Erde. Dünne Rauchfäden stiegen aus den Kaminen einsamer Bauernkaten, auf deren schiefergedeckten Dächern leuchtend grünes Moos wuchs.
    Kurz fragte er sich, was die Bewohner tun würden, falls sie wüssten, dass es mit ihrem gewohnten Leben bald vorbei sein würde. Aber selbst wenn sie es wüssten, sagte er sich, würden sie wahrscheinlich weitermachen wie bisher und weiterhin an Wunder glauben. Deshalb, dachte er, hatten sie nichts anderes verdient, als ausgelöscht zu werden. Die vor ihm liegende Aufgabe markierte einen weiteren Schritt hin zu diesem Ziel. Nach dem heutigen Tag würde es nicht mehr aufzuhalten sein. Er wischte die Fingerabdrücke der Grenzposten von den Handgriffen und fuhr weiter.
    Es war nicht mehr weit bis zum Treffpunkt. Er fuhr auf einsamen Straßen, durch Nebelschwaden, die sich in die Senken kauerten wie Tintenschlieren in Wasser. Er sang Texte von nur halb erinnerten Liedern vor sich hin. Ansonsten blieb er stumm, als wäre er ganz allein auf der Welt. Unterwegs in einem unbewohnten Land – genauso fühlte er sich.
    Endlich erreichte er den gesuchten Ort. Ein verlassenes Bauernhaus, dessen Dach durchhing wie der Rücken eines alten Gauls. Er bog von der Straße ab und fuhr durch einen Durchlass in der Steinmauer, die den Hof umgab. Überwachsene Bäume standen um das Haus, an den dicken Stämmen rankte sich Efeu. Ein Krähenschwarm stob von den Ästen auf, geisterhafte Silhouetten, die sich in den Pfützen auf dem Hof spiegelten.
    Stille legte sich über ihn, als er den Motor abstellte. Er zog die Handschuhe aus und kratzte sich die getrockneten Schlammspritzer vom Kinn, darunter kamen
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