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Tod in Bordeaux

Tod in Bordeaux

Titel: Tod in Bordeaux
Autoren: Paul Grote
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sollen. Ich werde es morgen wiederholen, das geht, dann sind beide Flaschen gleich lange offen, oder ich probiere es mit der zweiten Flasche. Wieder sog er die Luft ein. Sein Wein war stärker in der Frucht und schwächer im Holz. Bei dem von Gaston war es umgekehrt, obwohl sonst alle Aromen vorhanden waren. Kaum möglich, dass das ein und derselbe Jahrgang war, beide dieselbe Zeit im Barrique verbracht hatten. Sie konnten natürlich aus verschiedenen Abfüllungen stammen, denn in der Flasche hätten sie sich kaum so unterschiedlich entwickelt.
    Martin ließ den Wein über die Zunge laufen, bewegte ihn im Mund, öffnete die Lippen ein wenig, um Luft einzusaugen, und schnatterte wie eine Ente. Da war etwas Unausgegorenes. Er schloss die Augen wieder und spürte in sich hinein. Es gab einen Unterschied, minimal zwar, aber doch vorhanden. Er probierte von neuem, und der Unterschied wurde deutlicher. Gastons Haut-Bourton war vom Tannin her härter, rauer, die Gerbsäure hatte eine andere Textur. Und die Säure? Auch sie war anders, spitzer, irgendwie jünger. Das Verhältnis von Süße und Säure stimmte halbwegs und schien ihm doch bei beiden Weinen anders. Und der Körper? Gastons Wein wirkte nicht so voll und gesetzt. Die Unterschiede waren minimal, winzige Nuancen - gleichzeitig so deutlich und vielschichtig, dass es nicht nur an unterschiedlicher Entwicklung liegen konnte. Die chemische Note bei Gastons Haut-Bourton hätte nicht sein dürfen, ein Gärfehler hätte sich auf den gesamten Wein ausgewirkt. Ein unsauberes Fass? Nein, das war es nicht. Plötzlich wurde es ihm klar.
    Er fuhr wie elektrisiert auf und starrte die beiden Gläser an. Das war nicht derselbe Wein. In der Flasche, die er mitgebracht hatte, war etwas anderes.
    Martin griff nach dem Telefon und wählte Gastons Nummer. Es dauerte eine Weile, bis sich eine Männerstimme meldete.
    «Gaston? Bist du es?», fragte Martin erstaunt.
    «Nein, hier ist, äh ... sein, sein Schwager. Wer spricht, bitte?»
    «Martin, aus Deutschland.»
    «Wer sind Sie?»
    «Martin Bongers, Sie müssen mich doch kennen, der Weinhändler. Kann ich Gaston sprechen - oder Caroline?»
    Der Mann am anderen Ende zögerte. «Das ... das geht leider nicht, das ist nicht möglich ...»
    «Warum? Ist er in der Garage?»
    «Nein. Gaston Latroye, ähm, er hatte gestern einen Unfall im Lager. Ein Stapel Paletten ist umgefallen ...», stammelte der Schwager. Er schien nach Worten zu suchen. «Gaston Latroye ... ist tot!»

Kapitel 2
    Martin ließ den Hörer fallen. Gaston - tot? Nein. Das konnte nicht wahr sein. Oder doch? Wenn der Schwager es sagte? Martins Blick blieb an dem gerahmten Foto auf seinem Schreibtisch hängen: Gastons Haus in Saint-Émilion. Links der kleine Hof, daran anschließend die zum Gärkeller umgebaute Garage. Mit der darüber aufgeschütteten Erde, die das ganze Jahr über die Temperatur niedrig hielt, erinnerte die Konstruktion an eine Nissenhütte, die Büsche darauf an einen Begrünungsversuch von Friedensreich Hundertwasser. Gastons Weinberg, mehr ein Hang als ein Berg, begann hinter dem Haus. Das warme Licht des späten Sommertags lag auf den Rebstöcken.
    Martin hatte die Aufnahme gemacht, kurz nachdem Gaston das Haus gekauft und sie es zusammen renoviert hatten. Der Sandstein leuchtete, die hohen Fenster mit den hellgrauen Läden wirkten ein wenig zu großbürgerlich, oben rechts war das Zimmer, in dem er bei seinen Besuchen wohnte. Erst gestern war er dort aufgewacht.
    Gestern? Mein Gott, war das lange her. Wie schnell doch der Tod Zeiträume verändert, dachte Martin. In jenem Haus hatte er sich wohl gefühlt, dort hatten sie die Taufe der Kinder gefeiert, die gelungenen Ernten und sich dabei an Gastons Weinen ordentlich betrunken. Und jetzt war nichts mehr wie vorher.
    «Du weißt nie, was dich erwartet», genau das hatte Gaston gestern Morgen gesagt. Was in aller Welt hatte er damit gemeint? Martin wehrte sich gegen den Gedanken, dass er es nie erfahren würde.
    Geistesabwesend zog er ein Weinglas heran, beugte den Kopf darüber und schnüffelte, ohne etwas zu riechen, starrte hinein, ohne den Wein zu sehen, schwenkte es langsam - dann immer schneller, rote Reflexe huschten über seinen Handrücken. Als der Wein überschwappte und sich über den Schreibtisch ergoss, kam er zu sich. Die nassen Flecken sahen aus wie Blut.
    Gaston war tot, sein Leben vorbei, es gab ihn nicht mehr, nur eine unfassbare Leere und die Erinnerung an ihn. Der einzige Mensch, vor dem
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