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Tod im Weinkontor

Tod im Weinkontor

Titel: Tod im Weinkontor
Autoren: Michael Siefener
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Elisabeth von der Seite an. Sie starrte noch
immer auf das Blatt, als könne sie erst jetzt, da sie diesen
Brief mit eigenen Augen sah, begreifen, dass ihr Bruder tot
war.
    »Fällt Euch an diesem Brief etwas auf?«,
fragte er sie leise.
    »Nein«, antwortete sie. »Ich kann ihn lesen;
ich habe mir das Lesen selbst beigebracht, aber den lateinischen
Satz verstehe ich nicht.«
    »Ohne es zu wissen, habt Ihr das Wesentliche in diesen
Zeilen angesprochen«, meinte Andreas und kratzte sich am
glatt rasierten Kinn. »Wie Euch bekannt ist, haben Euer
Bruder und ich eine Weile gemeinsam die Lehren der heiligen
Mutter Kirche studiert. Dabei haben wir vieles Wichtige und
Wertvolle gehört, aber auch viel Unsinn. Immer, wenn es
einer unserer Professores gar zu arg trieb und sich in seinen
eigenen Argumentationen verhedderte, schrieben wir auf unser
Wachstäfelchen ebendiesen lateinischen Spruch, der so viel
bedeutet wie: So geht der Glanz des Verstandes dahin. Diese Worte
standen bei uns für etwas Unsinniges, Unverständliches,
Falsches. Das wusste niemand außer uns; es war unser
geheimes Zeichen, mit dem wir uns über die Esel im Talar
lustig gemacht haben. Dass dieser Satz jetzt in Ludwigs
Abschiedsbrief steht, kann kein Zufall sein, es sei denn, er
wollte sich über sich selbst lustig machen – ein
letzter Scherz auf seine Kosten.«
    »Das war nicht seine Art«, entgegnete Elisabeth.
Sie ging zum Stuhl zurück, setzte sich und strich eine
blonde Haarsträhne unter die Haube.
    »Ihr habt Recht, aber warum sollte er in diesem Brief
eine Botschaft ausgerechnet an mich versteckt haben? Er wusste
doch, dass ich in Bologna war.«
    »Aber er wusste genauso, dass Ihr bald zurückkehren
solltet – und dass Ihr nicht ruhen würdet, bis Ihr die
Umstände seines Todes aufgeklärt hättet.«
Elisabeth sah ihn mit ihren grünen Augen flehend an.
    Andreas faltete das Pergament wieder zusammen und steckte es
weg. Dann setzte er sich Elisabeth gegenüber auf einen
Dreifuß. »Ihr wisst, was es bedeutet, wenn wir Recht
haben?«, fragte er vorsichtig und beugte sich ein wenig
vor.
    Elisabeth nickte bedächtig. »Falls der lateinische
Satz tatsächlich ein Hinweis auf etwas Falsches ist, dann
heißt das, dass mein Bruder ermordet wurde.«
    Andreas senkte den Blick. Der Teppich unter seinen
Füßen zeigte ein Muster aus Rehen, die von Hunden
gejagt wurden. Weiter hinten, dort, wo Elisabeth saß,
drehten sich einige der Rehe um und bissen ihrerseits die Hunde;
die Rollen waren plötzlich vertauscht. Die Jäger im
Hintergrund schienen teilnahmslos dabeizustehen.
    Ohne den Blick von diesem erstarrten Schauspiel zu heben,
sagte Andreas: »Das ist richtig. Und es bedeutet, dass ihn
jemand gezwungen hat, den Abschiedsbrief aufzusetzen.«
    »Derselbe, der auch den Pakt formuliert und Ludwig zur
Unterschrift genötigt hat!«, rief Elisabeth
hasserfüllt. Andreas sah auf. Die Schwester seines Freundes
wirkte plötzlich wie eines der beißenden Rehe. Mochte
Gott dem Hund gnaden, den sie erwischte.
    »Das wäre möglich«, meinte Andreas
vorsichtig. »Doch warum hat sich jemand solche Mühe
gemacht, es wie einen Selbstmord aussehen zu lassen? Wäre es
nicht leichter gewesen, einen Unfall herbeizuführen? Und vor
allem: Warum sollte jemand Ludwig ermorden wollen? Und
wer?«
    »Seine Frau natürlich!«, giftete Elisabeth.
»Sie war doch immer nur hinter unserem Geld her. Und
über ihren Lebenswandel wollen wir lieber erst gar nicht
reden! Jetzt ist sie frei. Wir werden bestimmt bald sehen, was
sie mit ihrer Freiheit anfängt. Sie ist die Person, die wir
suchen, Andreas Bergheim. Ihr müsst sie Euch vornehmen. Sie
ist in diese Sache verwickelt. Das rieche ich!«
    »Wie wollt Ihr das riechen? Ihr seid doch wohl keine
Hexe?«, lachte Andreas, dem dieser Ausdruck recht grotesk
vorkam.
    Elisabeth verstummte und wurde rot. Sie legte die Hände
in den Schoß und wandte den Blick ab. »Ich bin keine
Hexe«, sagte sie mit fester Stimme, während die
Röte wieder aus ihrem Gesicht wich. »Anstatt haltlose,
aber gefährliche Verdächtigungen auszusprechen, solltet
Ihr Euch lieber um Barbara Leyendecker kümmern. Geht jetzt.
Gleich wird mein Gemahl zurückkommen. Ich will nicht, dass
er mich mit einem Pfaffen sieht.«
    Wie ein geschlagener Hund verließ Andreas das
Bonenberg-Haus, ging quer über den Heumarkt mit seinem
quirligen Treiben, den Fleischständen, dem Getreidemarkt,
lief an der
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