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Tod Auf Der Warteliste

Tod Auf Der Warteliste

Titel: Tod Auf Der Warteliste
Autoren: Veit Heinichen
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den beiden Griffen, die er am Nachmittag daran befestigt hatte, aus der Jackentasche. Blitzschnell legte er sie dem anderen um den Hals und zog zu. Arme und Hände des Vermittlers ruderten hilflos ins Leere. Er bekam Dimitrescu nicht zu fassen, der mit einem letzten kräftigen Ruck an der Schlinge riß. Der Mann sank wie ein Sack zu Boden. Dimitrescu warf den Draht weg und umfaßte den Kopf des anderen mit beiden Händen. Die Halswirbel knackten laut, als sie brachen.
    Als sein Bruder Vasile und er noch als Kampftaucher von der Marine bezahlt wurden, hatten sie weniger Sorgen. Auch wenn der Sold nicht üppig war, so kam er doch meist regelmäßig – bis der rumänische Staat ihn und viele Berufskollegen nicht mehr bezahlen konnte. Damit begann das Unglück auch für sie. Doch Dimitrescu hatte gelernt, wie man schnell und geräuschlos jemand aus dem Weg räumte. Es ist wie Schwimmen oder Fahrradfahren, hatte er früher manchmal gescherzt: Wer es einmal kapiert hatte, vergaß es nie wieder.
    Der Tod seines Bruders würde nicht ungesühnt bleiben. Dimitrescu würde seinen Spuren folgen, bis zuletzt. Der Vermittler hatte die Reise geplant, er war der erste. Dimitrescu durchsuchte flüchtig die Taschen des Mannes und zog ein paar Geldscheine aus einem Portemonnaie, das er achtlos in den Schnee warf. Die Spuren waren ihm egal, es war nicht anzunehmen, daß die Behörden lange ermittelten. Er schaute ein letztes Mal auf den Toten, spuckte aus und schnippte seine Zigarette in die Dunkelheit. Dann sah er das Lichtzeichen über dem Fallreep des Schiffs aufblitzen. Dimitrescu rannte los. Morgen käme er in Istanbul an, einige Tage später dann in Triest. Zwar brauchten Rumänen seit dem Jahreswechsel kein Visum mehr, um nach Westeuropa zu reisen, doch betrug die Wartezeit für einen Paß viele Monate. Die Schiffsreise war der einzige Weg, den Spuren des Bruders zu folgen. Auch wenn die Kontrollen scharf waren, die Hoffnung, bei der illegalen Einreise nicht erwischt zu werden, war größer. Täglich kamen Hunderte von LKWs über die Istanbul-Verbindung nach Triest. Die Organisation hatte die Sache gut im Griff. Dimitrescu machte sich darüber keine Sorgen, er dachte nur an seinen Plan.
     

Abgang
    Schreck ist älter als Wut. Seine Wangen waren aschfahl, das Blut schien ihn fast vollständig verlassen zu haben. Er stand nur noch einen halben Meter vor Proteo Laurentis Schreibtisch und brüllte ihn an, als versuchte er wieder Herr der aussichtslosen Lage zu werden.
    »Weißt du, was passiert ist? Weißt du, was die Scheißkerle mit mir vorhaben? Das gibt es doch nicht... mein Leben lang hab ich die Drecksarbeit für die gemacht – und jetzt? Aber die werden sich noch wundern, das versprech ich dir!«
    Galvano war weiß im Gesicht, seine Augen flackerten wild und in seinen Mundwinkeln klebten helle Spuren von Speichel. Der alte Mann, von dem alle dachten, daß er sein Leben lang nicht aus der Ruhe zu bringen sei und der die Unruhe anderer stets zynisch kommentierte, war kaum in der Lage, einen klaren Satz zu bilden. Seine Hände fuchtelten unablässig in der Luft, die langen knochigen Finger verkrampften sich, und die Haut über den Knöcheln spannte.
    Proteo Laurenti schloß die Tür seines Büros, ohne Marietta, seine Sekretärin, die so dringend darauf wartete, mit einem verschwörerischen Blick zu bedenken. Als Galvano eine Pause machte und langsam die zittrigen Hände aneinanderrieb, bot Laurenti ihm einen Stuhl an, doch der Alte schoß bereits eine neue Tirade ab. »Fast sechzig Jahre! Weißt du, was das heißt? Ach, woher auch! Du bist ja viel zu jung.«
    So war das in Triest. Sie kannten sich alle schon ewig. Laurenti würde im Herbst sein fünfundzwanzigstes Dienstjahr in der Stadt begehen, er war dem Papst um ein Jahr voraus. Fast ein Vierteljahrhundert war er verheiratet, und genauso lange kannte er seine Sekretärin, die noch nie den Wunsch geäußert hatte, sich von seiner Seite zu entfernen. Und Galvano kannte er ebenfalls, seit er in die Stadt gekommen war. Die wenigen Mordopfer, die Triest während der vergangenen drei Jahrzehnte verzeichnete, waren alle zum letzten Arztbesuch in Galvanos Praxis gelandet, ohne jede Hoffnung auf Heilung. Doch wenigstens spürten sie den Schnitt seines Skalpells nicht mehr, wenn er sie in den weißgekachelten Verliesen der Gerichtsmedizin obduzierte.
    »Siebenundfünfzig Jahre«, spuckte der Alte, und Laurenti erinnerte sich an die vielen Geschichten, die Galvano ihm erzählt
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