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Tod Auf Der Warteliste

Tod Auf Der Warteliste

Titel: Tod Auf Der Warteliste
Autoren: Veit Heinichen
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hatte. Der in Boston geborene Sohn italienischer Einwanderer war im Mai 1945 mit den Alliierten in die von den Deutschen befreite und soeben von den Jugoslawen besetzte Stadt gekommen – und hängengeblieben. Seine Frau war vor einigen Jahren gestorben, und die Kinder, die in Amerika lebten, besuchten ihn jedes Jahr nur einmal während der Badesaison. Seine Enkel waren der Muttersprache ihres Großvaters nicht mehr mächtig und lachten über sein antiquiertes Englisch.
    »Sie lagen alle vor mir, du weißt das, Laurenti. Die Toten, die der Krieg übrigließ, die ermordeten Nutten in den Fünfzigern, der Schwule, der von den ägyptischen Seeleuten abgestochen wurde, der arme Diego de Henriquez, der in seinem Lagerschuppen verbrannte. Alle, ausnahmslos. Auch der Tote in den drei Müllsäcken. Und der Harpunierte auf dem Karst! Die Selbstmörder sowieso. Einfach alles, was nicht ordnungsgemäß gestorben war, kam mir unter die Hände. Warum sagst du nichts?«
    Sie hatten lange zusammengearbeitet. Der Alte hatte ihn, wie jeden anderen auch, immer geduzt und stets in einer merkwürdig indignierten Art zu verstehen gegeben, daß dies umgekehrt nicht galt. Respekt kannte er weder vor Herkunft, Reichtum oder Macht. Nur vor Gericht war er formvollendet. Galvano war auch dank seiner Menschenkenntnis ein hervorragender Gerichtsmediziner und ließ sich gerne in privaten Angelegenheiten um Rat fragen. Als man ihn schließlich pensionierte, war er am Tag nach der Abschiedsfeier wie gewöhnlich zur Arbeit gekommen. Der bestellte Nachfolger war rasch weggebissen, und als wieder eine Leiche auftauchte, hatte man Galvano erneut vereidigt und weitere siebzehn Dienstjahre arbeiten lassen. Bis heute morgen.
    »Irgendwann mußte es dazu kommen«, sagte Laurenti und schaute zum Fenster hinaus.
    Galvano blickte ihn aus seinen großen graugrünen Augen an und sank auf den Stuhl. »Schau mich an«, sagte er. »Zeig mir jemand, der besser in Form ist als ich. Bin ich etwa verkalkt, dement, Creutzfeldt-Jakob? Zittern meine Hände? Ich bin gut auf den Beinen, sechs Stunden Obduktion am Stück beeindrucken mich kaum, und die Assistenten kommen noch immer nicht mit der Niederschrift mit, wenn ich diktiere. Also sag mir einen einzigen Grund, weshalb ich jetzt nicht mehr arbeiten soll.«
    »Wer hat es Ihnen gesagt?«
    »Immerhin war es der Präfekt selbst, zusammen mit dem Questore. Wenigstens hatten sie genug Ehrgefühl, nicht nur den Personalchef zu schicken. Aber alleine haben sie sich auch nicht getraut, dazu hatte keiner von ihnen die Eier.«
    »Und, was haben Sie gesagt? Haben Sie etwa nicht verhandelt?« Laurenti wußte genau, daß dies eine rhetorische Frage war, und stellte sich lebhaft vor, wie Galvano die beiden Unglücksboten verbal gelyncht hatte.
    »Was glaubst denn du? Ich habe alle Fälle aufgezählt, mit dem zugehörigen Jahr und der Todesursache. Aber die wissen ja nichts. Unbeleckte Jungspunde!« Der Präfekt war in der Tat erst vor sechs Jahren nach Triest berufen worden, der Questore dagegen war schon viel länger hier. Doch aus Galvanos Sicht waren sie blutige Anfänger. »Am Ende haben sie wenigstens versprochen, mich in schwierigen Fällen zu konsultieren. Aber mein Büro muß ich bis heute abend räumen. Doch die werden sich wundern, darauf kannst du dich verlassen.«
    Es war nicht der erste Versuch, den Alten definitiv in den Ruhestand zu schicken, obwohl man ihm, abgesehen von seiner Art, lebende Menschen zu behandeln, nichts vorwerfen konnte, außer daß er zu alt war. Laurenti wußte, daß es keine Bosheit der Vorgesetzten war. Es durfte einfach keinen zweiundachtzigjährigen Gerichtsmediziner geben, und damit basta. Aber er verspürte keine Lust, die Entscheidung zu verteidigen und damit einen erneuten Ausbruch Galvanos zu riskieren. Auch für ihn war es lästig, sich an einen Nachfolger zu gewöhnen. Einige der Assistenten, die bisher in Galvanos kaltem Verlies arbeiteten, waren ihm unsympathisch gewesen. Junge Lackel, frisch von der Universität und von großer Überheblichkeit. Andererseits konnten sie bei Galvano auch nicht viel gelernt haben, denn der witterte stets Konkurrenz und verteidigte sein Reich wie ein bissiger Hund.
    »Ich helfe Ihnen, Ihre Sachen nach Hause zu schaffen«, sagte Laurenti und schaute auf die Uhr. »Sollen wir gleich losgehen?«
    »Du spinnst wohl.« Galvano stand auf. »Ich habe Zeit bis heute abend. Ich verlasse meine Räume keine Minute früher. Wenn du dann immer noch Lust hast, mir zu
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