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Tod an der Ruhr

Tod an der Ruhr

Titel: Tod an der Ruhr
Autoren: Peter Kersken
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strich seine langen, dunklen Haare hinter die Ohren. »Wenn Sie wollen, lese ich Ihnen gerne vor, was er damals über Sterkrade berichtet hat.«
    »Ich verstehe das Englische nicht«, sagte Grottkamp.
    »Das ist mir schon klar«, erwiderte Banfield. »Ich übersetze es Ihnen ja.« Und ohne zu stocken, gerade so, als wäre der Text in deutscher Sprache geschrieben, las er aus dem Buch seines Onkels vor:
    »Ein fröhlicher Tag führte zu der Einladung, die beiden großen, in einiger Entfernung von Ruhrort gelegenen Werke Sterkrade und Oberhausen der Firma Jacobi, Haniel & Huyssen zu besichtigen. Wir fuhren zuerst nach Sterkrade, wo sich die Hochöfen befinden und wo die Wiege des Werkes, das jetzt zu den größten in Europa gehört, gestanden hat.«
    Edward Banfield überflog die nächsten Zeilen. »Jetzt kommt was über die Geschichte der Hütte und über die Qualität der hiesigen Rasenerze. Das ist uninteressant«, befand er. Dann las er weiter:
    »Das Hauptgeschäft in Sterkrade ist das Gießen von kleinen Gusswaren, die in Deutschland ›Potterie‹ genannt werden. Für ärmere Leute wird ein hübscher, leichter und billiger Ofen, ähnlich einer viereckigen Kiste, hergestellt, der mit einer Tür versehen ist und einen kleinen Wärmeraum, ähnlich einem Backofen, hat, in dem man ein kleines Mittagessen herrichten oder Wasser in einem Kessel kochen kann.«
    Banfield ließ das Buch sinken und schaute Grottkamp herausfordernd an. Der zuckte mit den Achseln. »Was soll an dem verkehrt sein, was Ihr Onkel da geschrieben hat?«
    »Aber Herr Offiziant, merken Sie das denn nicht?«, erregte der junge Engländer sich. »Thomas Banfield hat sich von den Ingenieuren die Bauweise und die Funktion dieser Gussöfen erklären lassen. Und was er darüber schreibt ist zweifellos zutreffend. Aber das Bild, das durch den Bericht in den Köpfen der Engländer entsteht, das ist falsch. Da sitzen gutgelaunte Menschen beieinander in ihren warmen Stuben. Sogar die armen Leute haben ihren hübschen Ofen, in dem sie ihr Mittagsmahl zubereiten können. Das ist doch verlogen! Dass die Menschen an den Hochöfen und in den Fabriken gearbeitet haben bis zum Umfallen, dass viele von ihnen trotzdem ihre Familien nicht satt bekommen haben, dass ihnen die Kinder weggestorben sind und dass sie in den elendesten Verhältnissen leben mussten, das hat Thomas Banfield einfach nicht zur Kenntnis genommen. Für ihn war das damals ein fröhlicher Tag in Sterkrade. Das glaube ich wohl. Die Hüttenbarone werden ihm in den Hintern gekrochen sein. Der Herr aus England sollte schließlich nur Gutes über ihre Unternehmungen berichten. Wahrscheinlich haben sie ihn zu einem opulenten Essen eingeladen und ihm ein kleines Geschenk mit auf den Weg gegeben. Aber für die Menschen hier, für die meisten jedenfalls, war das kein fröhlicher Tag, sondern ein unendlich mühseliger Arbeitstag.«
    Grottkamp kraulte schon eine ganze Weile seinen Bart. Er wusste allmählich nicht mehr, was er von diesem jungen Kerl aus England halten sollte. War er nun ein gefährlicher Kommunist oder ein mitfühlender Mensch, dem das Wohl der kleinen Leute am Herzen lag?
    »Etwas muss ich Ihnen noch vorlesen«, sagte Banfield. »Da geht’s um das Leben im Dorf Sterkrade.« Er blätterte ein paar Seiten vor und wieder zurück, bis er die richtige Stelle gefunden hatte.
    »Sterkrade und Antonyhütte beschäftigen zusammen etwa vierhundert Arbeiter. Da das Werk schon lange besteht, leben fast alle mit ihren Familien in dem Dorfe, welches eine kleine Welt für sich bildet. Die übrigen haben zu ihrer Arbeitsstätte einen Weg von zwei bis drei englischen Meilen.
    Fast alle besitzen ein kleines Stück Land oder wenigstens einen Garten bei ihrem Häuschen. Obgleich die Umgegend jetzt einen bebauten Eindruck macht, ist es doch noch nicht sehr lange her, dass alles Heide war. Land konnte damals zu billigen Preisen erworben werden. Durch die Werke haben die Grundstücke aber einen ganz anderen Wert erhalten.«
    Edward Banfield legte das Buch kopfschüttelnd zur Seite. »Mir wird’s immer wieder übel, wenn ich das lese«, sagte er ärgerlich. »Als wäre es die reinste Idylle, das Leben der Industriearbeiter an der Ruhr, so hört sich das an. Jeder hat sein Häuschen und sein Stückchen Land in dieser netten, kleinen Welt für sich.«
    »Vielleicht tun Sie Ihrem Onkel Unrecht«, sagte Grottkamp nachdenklich. »Vor zwanzig Jahren, als er hier war, da sah die Welt noch anders aus als heute. Damals
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