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Tochter Der Traumdiebe

Tochter Der Traumdiebe

Titel: Tochter Der Traumdiebe
Autoren: Michael Moorcock
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Traum, der ewig zu währen schien. Eine Begegnung mit der Vielfalt unseres Multiversums in allen seinen unendlichen, unbeschränkten Spielarten, mit all den Möglichkeiten zum Bösen und all den Anlagen zum Guten.
    Vielleicht der einzige Traum, der mir nicht gestohlen wurde.

2. Ungebetene Verwandte
     
    Ich wartete noch immer auf den nächsten Anruf von ›Gertie‹, als in den ersten Monaten des Jahres 1934 ein unerwarteter und recht beunruhigender Besucher in Bek eintraf.
    Über Vermählungen und andere verwandtschaftliche Beziehungen stehen wir mit den alten Herrschern von Mirenburg in Verbindung, der Hauptstadt von Waldenstein, das die Nazis und später die Sowjets in Besitz nehmen sollten. Obwohl die Einwohner überwiegend slawischer Abstammung sind, ist das Fürstentum seit Jahrhunderten durch Sprache und gemeinsame Belange kulturell mit Deutschland verbunden. Es war ein alter Brauch in meiner Familie, uns alljährlich wenigstens zur Sommerfrische dort einzufinden. Einige Familienmitglieder wie mein unerträglicher, in Deutschland in Ungnade gefallener Onkel Rudi lebten sogar fast ständig dort.
    Die Herren von Mirenburg hatten die Umwälzungen des Jahrhunderts nicht überstanden. Auch sie hatten einen Bürgerkrieg erdulden müssen, der hauptsächlich durch ausländische Mächte angestachelt worden war, die Waldenstein in ihre Gewalt bringen wollten. Die Badehoff-Krasnys wurden wieder als Machthaber eingesetzt, mussten aber eher als Vasallen Österreichs denn als unabhängige Herrscher angesehen werden. Sie hatten in die Familie derer von Minct eingeheiratet, eine der großen Dynastien Mirenburgs.
    Auch Ungarn hatte Interesse an diesem winzigen Land. Der derzeitige Prinz von Waldenstein war mein Vetter Gaynor, dessen Mutter, einst eine der schönsten Frauen in Budapest, immer noch als einflussreicher politischer Kopf galt. Ich kannte und bewunderte meine Tante. In ihren mittleren Lebensjahren war sie eine beeindruckende Frau gewesen, die das ihr zugefallene Land mit dem Geschick eines Bismarck zu regieren wusste.
    Jetzt war sie gebrechlich. Der Aufstieg des Faschismus hatte sie erschreckt und erschöpft. Mussolinis Erfolge waren ihr ein Gräuel, Hitler für sie ein unfassbar oberflächlicher Mann, voll bösartiger Rhetorik, übler Begehrlichkeit und Anmaßung. Doch Deutschlands Seele, so sagte sie mir bei unserer letzten Begegnung, sei bereits gestohlen worden. Hitler hantierte nur noch mit dem Leichnam der deutschen Demokratie. Er hatte nichts getötet, er war selbst aus dem Grab gewachsen, sagte sie. Auf der Leiche gewuchert wie eine ansteckende Krankheit, die schnell das ganze Land infiziert hatte.
    »Und wo ist Deutschlands Seele?«, fragte ich. »Wer hat sie denn gestohlen?«
    »Die Seele ist in Sicherheit, wie ich glaube.« Sie zwinkerte und gestand mir damit ein größeres Maß an Geistesgegenwart zu, als ich tatsächlich besaß. Mehr wollte sie zu diesem Thema nicht sagen.
    Prinz Gaynor Paul St. Odhran Badehoff-Krasny von Minct besaß zwar nicht die gelassene Klugheit seiner Mutter, wohl aber ihre ganze ungarische Schönheit und den Charme dieses Landes, mit dem er seine politischen Gegner häufig zu entwaffnen verstand. Zeitweise betrieb er die gleiche Politik wie seine Mutter, aber dann schien es, als würde er dem Weg folgen, den so viele enttäuschte Idealisten dieser Tage gingen. Er betrachtete den Faschismus als die starke Kraft, die dem erschöpften Europa zu neuem Leben verhelfen und die Schmerzen all jener lindern würde, die unter diesen Umständen litten.
    Ein Rassist war Gaynor nicht. Waldenstein war traditionell philosemitisch eingestellt, obschon gegenüber den Zigeunern im Lande weit weniger aufgeschlossen, und sein Faschismus glich eher dem Vorbild Mussolinis als dem Beispiel Hitlers. Ich empfand beider Ideen als dumm oder widerwärtig. Gemengsei aus Heuchelei und Bauernfängerei, die gewiss keinen Platz in irgendeiner ernsthaften philosophischen oder politischen Tradition einnehmen konnten, auch wenn sie Denker wie Heidegger für sich gewinnen und einige falsch verstandene Sprüche Nietzsches in ihre Ideologie einbinden konnten.
    Schockiert war ich aber, als ich Gaynor im offiziellen schwarzen Mercedes vorfahren sah, geschmückt mit Hakenkreuzen und in der Uniform eines Hauptmanns der ›Elitetruppe‹ SS, die inzwischen einflussreicher als Röhms SA war. Die grobschlächtigen, oft aus Freikorps stammenden Kämpfer der SA waren Hitler inzwischen eher ein Dorn im Auge. Der Schnee lag um
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