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Tochter Der Traumdiebe

Tochter Der Traumdiebe

Titel: Tochter Der Traumdiebe
Autoren: Michael Moorcock
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gestorben waren oder noch sterben sollten.
    Die Tatsache, dass meine Albträume wieder einsetzten, bereitete mir ein beträchtliches Unbehagen und versetzte meine treuen Diener, die mich drängten, den Arzt zu rufen oder in Berlin einen Spezialisten zu konsultieren, in Aufregung.
    Doch bevor ich entscheiden konnte, was zu tun sei, erschien die weiße Häsin wieder. Sie rannte rasch über die Leichen und zwischen den Beinen der in Rüstungen kämpfenden Männer hindurch, unbeeindruckt von den Kanonen und Lanzen tausend streitender Nationen und Religionen. Ich konnte nicht sagen, ob sie mich einlud, ihr zu folgen. Dieses Mal drehte sie sich nicht zu mir um. Sehnsüchtig wartete ich, dass sie mich ansah, dass sie mir noch einmal ihre Augen zeigte, damit ich feststellen konnte, ob sie nicht vielleicht eine verschlüsselte Darstellung meiner selbst war - von mir selbst, nachdem ich mich aus dem ewigen Kampf befreit hatte. Es war, als wollte sie das Ende der Schrecken ankündigen. Ich musste wissen, was sie symbolisierte. Ich wollte sie rufen, aber ich war stumm. Dann war ich taub, dann blind.
    Und auf einmal brachen die Träume ab. Ich wachte morgens mit dem eigenartigen Gefühl auf, dass mir rasch die Erinnerungen entglitten und eine Realität verschwand. So fühlt es sich an, wenn ein eindringlicher Traum sich auflöst. Es bleibt nur das Gefühl, dass man geträumt hat. In meinem Fall blieben auch Verwirrung und eine tiefe Angst zurück. Ich konnte mich nur noch an eine weiße Häsin erinnern, die über ein Schlachtfeld voller niedergemetzelter Menschen rannte. Kein besonders angenehmes Gefühl, aber nach den bisherigen nächtlichen Qualen immerhin eine Erleichterung.
    Nicht nur die Albträume hatte man mir gestohlen, sondern auch die gewöhnlichen Wachträume von einem Leben, das ich mit beschaulichen Studien und wohltätigen Arbeiten zu verbringen gedachte. Ein solches Leben, das an das Dasein eines Mönchs erinnert hätte, war das Beste, was jemand mit meinem Äußeren in jenen Tagen erwarten konnte, war doch diese Zeit nichts weiter als eine unbehagliche Pause in jenem Konflikt, den wir inzwischen den Großen Krieg nannten, und der alle Kriege beenden sollte.
    Heute denken wir an diese Zeit als an ein ganzes Jahrhundert des Krieges zurück, in dem ein entsetzlicher Konflikt auf den Nächsten folgte, die Hälfte als heilige oder moralisch gerechtfertigte Kriege aufgewertet, oder auch als Kriege, um unterdrückten Minderheiten zu helfen. Doch die meisten Konflikte beruhten in Wirklichkeit auf sehr einfachen Emotionen und kurzfristigen Zielen, auf schlichter Gier und jener furchtbaren Selbstherrlichkeit, die zweifellos auch die christlichen Kreuzfahrer empfunden hatten, als sie im Namen Gottes und der menschlichen Gerechtigkeit Jerusalem in Angst und Schrecken versetzten.
    So viele stille Träume wie der meine wurden in diesem Jahrhundert zerstört. So viele edelmütige Männer und Frauen, grundehrliche Seelen, wurden mit nichts als Qualen und schrecklichem Tod belohnt.
    Dank der Fügsamkeit der Kirche bekamen wir auch in den Straßen Beks schon bald die Bilder des Reichskanzlers Adolf Hitler zu sehen. Auf den Porträts erschien er in glänzendes Silber gerüstet und ritt auf einem Schimmel. Er trug das Banner Christi und den Heiligen Gral und erinnerte an die legendären Retter unseres Volkes.
    Diese bigotten Philister verachteten das Christentum und setzten das Hakenkreuz als Symbol des modernen Deutschland ein. Sie verrieten unseren edelsten Idealismus und nutzten historische Sinnbilder für ihre bösen Ränke.
    Ich glaube, es ist ein Kennzeichen des politischen Halunken, dass er über die Rechte und Hoffnungen der Menschen spricht und mit salbungsvollen Worten alles und jeden, nur nicht das eigene Naturell für die Probleme der Welt verantwortlich macht. Immer ist es die Bedrohung aus dem Ausland - die Angst vor dem ›Fremden‹. Unerkannte Eindringlinge seien die Schuldigen und die illegal im Lande lebenden Ausländer…
    Heute noch höre ich diese Stimmen im modernen Deutschland, in Frankreich und in Amerika und überhaupt in allen Ländern, die wir einst für viel zu zivilisiert hielten, um solche Schrecken in den eigenen Grenzen zuzulassen.
    Ich glaube, nach all den Jahren fürchte ich noch immer, dieser grauenhafte Traum, in den ich schließlich stürzte, könnte noch einmal Besitz von mir ergreifen. Ein Traum, der viel realer schien als jede Realität, die ich bislang erlebt hatte, ein Traum ohne Ende. Ein
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