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Tochter Der Traumdiebe

Tochter Der Traumdiebe

Titel: Tochter Der Traumdiebe
Autoren: Michael Moorcock
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hatten sich so sehr an ihre demokratischen Freiheiten und Rechte gewöhnt, dass sie immer nur fragten: »Was habe ich denn getan?«, sobald die Unmenschen vor ihnen standen, die das Gesetz des Landes umgestürzt und durch Gewalt und blinden Hass ersetzt hatten, durch Hohn und verirrte Sexualität. Es waren keine Polizisten, sondern Folterknechte, Diebe, Vergewaltiger und Mörder, denen die Macht in die Hände fiel, weil es uns an Zivilcourage und Selbstachtung mangelte. Und jetzt beherrschten sie uns alle! Wir haben nichts zu fürchten, sagte der große Präsident Roosevelt, außer der Furcht selbst. In diesem Fall hatte die Furcht gesiegt.
    Obwohl von Natur aus eigentlich nicht abergläubisch, bekam ich doch das Gefühl, dass ein großes Übel über unsere Welt gekommen war. Ironischerweise hatte am Anfang des Jahrhunderts noch die Überzeugung vorgeherrscht, Krieg und Unrecht würden rasch ausgelöscht. Hatte unsere Selbstzufriedenheit den Angriff begünstigt? Es war, als sei durch den Gestank der Gemetzel im Burenkrieg, in König Leopolds Kongo, im Völkermord an den Armeniern, durch die Millionen Leichen, die im Weltkrieg zwischen Paris und Peking die Gräben, Schanzen und Stellungen füllten, eine dämonische Macht angelockt worden. Sie schwelgte gierig in diesem Grauen und erstarkte weit genug, um Jagd auf die Lebenden zu machen.
    Nach dem Abendessen war es zu kühl für die Terrasse, sodass wir in der Bibliothek am Kamin unsere Zigarren rauchten und in altmodischer, zivilisierter Behaglichkeit einen Brandy mit Soda genossen. Mir wurde bewusst, dass mein Vetter nicht zum Vergnügen unterwegs war. Geschäfte irgendeiner Art hatten ihn nach Bek geführt und ich fragte mich, wann er zur Sache käme.
    Die letzte Woche hatte er in Berlin verbracht, wo er eine Menge Klatsch über Hitlers neue Hierarchie aufgeschnappt hatte. Göring war ein großer Snob, der gern den Umgang mit dem Adel pflegte. Daher wurde Prinz Gaynor, den die Deutschen lieber mit seinem bürgerlichen Namen Paul von Minct anredeten, als persönlicher Gast des Reichsmarschalls eingeladen, womit es ihm, wie er mir erklärte, erheblich besser erging als Hitlers persönlichen Gästen. Hitler, so versicherte er mir, sei einer der langweiligsten kleinen Männer, die je auf diesem Planeten gewandelt waren. Hitler wollte ständig über seine halb ausgegorenen Ideen schwadronieren, während ein Lakai immer wieder dieselben Schallplatten von Franz Lehär auflegte. Ein Abend mit Hitler, sagte er mir, gleiche einem unendlichen Besuch bei einer zimperlichen alten Tante. Es war kaum zu glauben, dass Hitlers alte Freunde behaupteten, er würde sie mit seinen Einfällen und Scherzen immer wieder zum Lachen bringen.
    Goebbels sei zu sehr in sich gekehrt, um ein guter Gesellschafter zu sein. Er beschränke sich auf hinterhältige Bemerkungen über andere Nazis. Doch Göring sei ein unterhaltsamer Zeitgenosse mit einer echten Liebe für die Kunst, die seine Kollegen nur vorspiegelten. Er habe es sich zur Aufgabe gemacht, bedrohte Gemälde vor den Zensoren der Nazis zu bewahren. Sein Haus in Berlin war geradezu ein Zufluchtsort und ein Depot für alle möglichen Kunstwerke geworden, darunter alte Objekte der deutschen Volkskunst und auch Waffen.
    Obwohl er stets mit ironischem, leicht spöttischem Tonfall sprach, war ich nicht ganz überzeugt, dass Gaynor wirklich nur bei den Nazis mitspielte, um Waldenstein vor ihrem direkten Zugriff zu schützen. Er sagte, er akzeptiere die politische Realität, hoffe jedoch, es würde in die Pläne der neuen Herren Deutschlands passen, wenn sie sein kleines Land wenigstens dem Anschein nach in der Unabhängigkeit beließen. Ich spürte allerdings, dass mehr dahinter steckte. Ich spürte, wie sehr er sich von diesem Schauspiel pervertierter romantischer Ideale angezogen fühlte. Die gewaltige Macht, die Hitler und seine Helfer jetzt in Händen hielten, reizte ihn. Ich bekam den Eindruck, dass er nicht nur Teilhaber dieser Macht werden, sondern sie für sich allein haben wollte. Vielleicht wollte er gar als neuer Prinz von Großdeutschland eingesetzt werden. Er scherzte darüber, dass er ebenso viel jüdisches und slawisches Blut wie arisches in sich hätte, doch es schien, als würden die Nazis großzügig gewisse Unklarheiten hinsichtlich der Vorfahren übersehen, solange sie nur den Eindruck hatten, der Betreffende könne ihnen nützlich sein.
    Es war klar, dass ›Hauptmann von Minct‹ den Nazis im Augenblick wichtig genug war,
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