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Titan 15

Titan 15

Titel: Titan 15
Autoren: Robert Silverberg , Wolfgang Jeschke
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plötzlich…
    … war das möglich? Würde es so einfach gehen? Wenn ich ihnen das Buch des Predigers vorlas, wenn ich ihnen ein Stück größerer Literatur vorlas, als je ein Locar geschrieben hatte – und doch genauso ernst, genauso pessimistisch – und ihnen zeigte, daß unsere Rasse weiterlebt, ein Mann das Leben des Menschen in seinem hohen Gesang als Eitelkeit verdammt hatte, wenn ich ihnen zeigte, daß uns dieser Hochmut, diese Eitelkeit in den Himmel getragen hatte, würden sie es glauben? Würden sie ihre Meinung ändern?
    Ich trat meine Zigarette auf dem schönen Boden aus und fand mein Notizbuch. Ein ungewohnter Zorn stieg in mir auf.
    Und ich trat in den Tempel, um die schwarze Predigt nach Gallinger zu halten, aus dem Buch des Lebens.
    Rings um mich war Schweigen.
    M’Cwyie hatte Locar gelesen, die Rose zu ihrer Rechten, das Ziel aller Augen.
    Bis ich eintrat.
    Hunderte von Leuten saßen auf dem Boden. Die paar Männer waren ebenso klein wie die Frauen, stellte ich fest. Alle waren sie barfuß.
    Ich hatte die Stiefel an.
    Jetzt geht’s ums Ganze, überlegte ich. Entweder verlierst du, oder du gewinnst – alles!
    Ein Dutzend alte Vetteln saßen im Halbkreis hinter M’Cwyie. Die Mütter!
    Die tote Herde, nur verdorrter Schoß, die vom Feuer Berührten.
    Ich trat an den Tisch.
    »Ihr, die ihr selbst sterbt, wollt euer Volk zum Tode verurteilen«, sprach ich zu ihnen, »auf daß sie das Leben nicht kennen, das ihr gekannt habt, die Freuden, die Sorgen, die Fülle. Aber es ist nicht wahr, daß ihr alle sterben müßt.« Jetzt sprach ich zur Menge. »Jene, die das sagen, lügen. Braxa weiß das, denn sie wird ein Kind tragen…«
    Sie saßen da wie Reihen von Buddhas. M’Cwyie zog sich in den Halbkreis zurück.
    »…mein Kind!« fuhr ich fort und fragte mich, was mein Vater wohl von dieser Predigt gehalten hätte.
    »… Und alle Frauen, die jung genug sind, können Kinder tragen.Nur eure Männer sind steril. Und wenn ihr den Ärzten der nächsten Expedition gestattet, euch zu untersuchen, kann man vielleicht sogar den Männern helfen. Und wenn nicht, könnt ihr euch mit den Männern von der Erde paaren.
    Und wir sind ein bedeutendes Volk von einer bedeutenden Welt«, fuhr ich fort. »Vor Jahrtausenden schrieb der Locar unserer Welt ein Buch, in dem er dasselbe behauptet. Er sprach, wie Locar sprach. Aber wir legten uns nicht nieder, trotz der Plagen, der Kriege und der Hungersnöte. Wir starben nicht. Wir kämpften die Krankheiten nieder, eine nach der anderen, wir gaben den Hungrigen zu essen, zogen in die Schlachten und haben es sogar geschafft, die Kriege zu besiegen, vielleicht für immer, ich weiß es nicht.
    Aber wir haben Millionen von Meilen des Nichts durchquert. Wir haben eine andere Welt besucht. Und unser Locar hatte gesagt: ›Warum sich mühen? Was ist es wert? Es ist alles ohnehin nur Hochmut.‹
    Und das Geheimnis davon ist«, ich senkte meine Stimme wie bei einer Dichterlesung, »er hatte recht! Es ist Eitelkeit! Es ist Hochmut! Es ist Stolz! Es ist die Hybris des rationalen Denkens, stets dem Propheten zu widersprechen, dem Mystiker, und Gott! Unsere Blasphemie ist es, die uns groß gemacht hat und die uns stützen wird, aber die die Götter insgeheim an uns bewundern. All die wirklich geheiligten Namen Gottes offenbaren sich in Dingen, die Blasphemie sind, wenn man sie ausspricht!«
    Ich begann zu schwitzen. Benommen hielt ich inne.
    »Dies sind die Regeln des Predigers«, verkündete ich und begann:
    »Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel. Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne? Ein Geschlecht vergeht…«
    Ich entdeckte Braxa ganz hinten, stumm, hingerissen.
    Ich fragte mich, was sie wohl denken mochte.
    Und ich wand die Stunden der Nacht um mich wie schwarzen Faden auf eine Spule.
    Oh, wie spät es war! Ich hatte gesprochen, bis der Tag anbrach. Und immer noch sprach ich. Ich war mit dem Prediger Salomo zu Ende und fuhr mit dem Prediger Gallinger fort.
    Und als ich damit endete, herrschte nur noch Schweigen.
    Die Buddhas, alle in einer Reihe, hatten sich die ganze Nacht nicht geregt. Und nach einer langen Weile hob M’Cwyie die rechte Hand.
    Und all die anderen Mütter taten es ihr gleich.
    Und ich wußte, was das bedeutete.
    Es bedeutete »Nein, nicht.« Und es bedeutete auch »Hör auf!«
    Es bedeutete, daß ich versagt hatte.
    Langsam ging ich aus dem Raum und sank neben meinem Gepäck nieder. Ontro
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