Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
müssen, als sie sich an jenem Morgen in Baltimore auf den Weg gemacht hatten, aber zum Henker, hatte er gesagt, es sei nun mal ihre einzige Chance, und da das Leben sowieso nur ein Spiel sei, warum nicht alles auf eine Karte setzen?
    Ach, Willy. Er hatte schon so viele Geschichten erzählt und mit so vielen verschiedenen Stimmen gesprochen, daß Mr. Bones längst nicht mehr wußte, was er noch glauben sollte. Was war wahr und was gelogen? Eine schwierige Frage bei einem so schillernden und schrulligen Typen wie Willy G. Christmas. Mr. Bones konnte sich zwar für das verbürgen, was er mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leib erfahren hatte, aber Willy und er waren erst seit sieben Jahren zusammen, und die Fakten aus den vorangegangenen achtunddreißig waren mehr oder weniger ungesichert. Wenn Mr. Bones nicht als Welpe mit Willys Mutter unter einem Dach gelebt hätte, läge die ganze Geschichte im dunkeln, aber indem er Mrs. Gurevitch gut zugehört und ihre Aussagen mit denen ihres Sohnes verglichen hatte, war es ihm gelungen, sich ein halbwegs klares Bild davon zusammenzustückeln, wie Willys Welt vor seiner Zeit ausgesehen hatte. Tausend Details fehlten darin, tausend andere waren verworren, aber Mr. Bones hatte eine Ahnung davon, auch einen Riecher dafür, wie sie gewesen sein mochte und wie nicht.
    Sie war zum Beispiel nicht reich gewesen und auch nicht fröhlich, und oft hatte ein Geruch von Verbitterung und Verzweiflung in der Wohnung gehangen. Angesichts dessen, was die Familie vor ihrer Ankunft in Amerika hatte durchmachen müssen, schien es ein Wunder zu sein, daß David Gurevitch und Ida Perlmutter überhaupt ein Kind gezeugt hatten. Von den sieben Kindern, die Willys Großeltern zwischen 1910 und 1921 in Warschau und Lodz gezeugt hatten, hatten nur sie beide den Krieg überlebt. Sie allein hatten keine Zahlen auf die Unterarme tätowiert bekommen, sie allein hatten das Glück gehabt, fliehen zu können. Nicht, daß sie es deswegen leicht gehabt hätten; Mr. Bones hatte genug Geschichten darüber gehört, bei denen sich ihm das Nackenfell sträubte. Die zehn Tage auf dem Kriechboden in Warschau. Der monatelange Marsch von Paris bis in die unbesetzte Zone im Süden, auf dem sie in Heuschobern schliefen und Eier stahlen, um zu überleben. Das Internierungslager in Mende, die Schmiergelder, die sie zahlen mußten, um sicheres Geleit zu erhalten, die vier Monate blanker bürokratischer Hölle in Marseille, in denen sie auf die spanischen Transitvisa warteten. Dann das Koma des langen Festsitzens in Lissabon, der Sohn, den Ida 1944 tot gebar, und die zwei Jahre, die sie auf den Atlantik hinausstarrten, während sich der Krieg dahinschleppte und ihnen das Geld ausging. Als Willys Eltern 1946 in Brooklyn ankamen, begann für sie weniger ein neues Leben als ein postumes, eine Zwischenzeit zwischen zwei Toden. Willys Vater, der in Polen ein cleverer junger Anwalt gewesen war, bettelte einen entfernten Cousin um Arbeit an und verbrachte die folgenden dreizehn Jahre damit, die U-Bahn zur Seventh Avenue zu nehmen und in einer Knopffabrik in der West 28 Street zu arbeiten. Im ersten Jahr konnte Willys Mutter das Einkommen noch aufbessern, indem sie verzogenen jüdischen Gören bei sich zu Hause Klavierunterricht gab, doch damit war eines Morgens im November 1947 Schluß, als Willy sein kleines Gesicht zwischen ihren Beinen hervorschob und sich unerwartet weigerte, das Atmen einzustellen.
    Er wuchs als richtiger Amerikaner auf, ein Junge aus Brooklyn, der auf der Straße Schlagball spielte, nachts unter der Bettdecke Mad las und Buddy Holly und The Big Bopper hörte. Seine Eltern hatten von solchen Dingen nicht die leiseste Ahnung, aber das kam ihm eher gelegen, denn damals war es sein größtes Ziel, sich selbst einzureden, daß Mutter und Vater in Wirklichkeit gar nicht seine Eltern seien. Sie waren ihm fremd, peinlich und einfach lästig mit ihrem polnischen Akzent und ihrem gestelzten, seltsamen Benehmen, und ohne daß er lange darüber nachdenken mußte, war ihm klar, daß seine einzige Überlebenschance darin bestand, ihnen bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit Widerstand zu leisten. Als sein Vater mit neunundvierzig an einem Herzanfall starb, linderte heimliche Erleichterung Willys Trauer. Schon mit zwölf, als er gerade in die Pubertät kam, hatte er seine Lebensphilosophie ausformuliert, die da hieß, sich Ärger aufzuhalsen, wo es nur ging. Je miserabler das Leben, das man führte, desto näher kam man
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher