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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
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der Wahrheit, dem unerbittlichen Wesen der Existenz, und was konnte schrecklicher sein, als sechs Wochen nach dem zwölften Geburtstag seinen Vater zu verlieren? Das brandmarkte einen doch geradezu als tragische Gestalt, disqualifizierte einen für die Hatz auf eitle Hoffnungen und sentimentale Illusionen und verlieh einem die Aura, sich das Leid rechtschaffen verdient zu haben. Fest stand allerdings, daß Willy nicht besonders litt. Sein Vater, ein Mann, der zu wochenlangem Schweigen und plötzlichen Wutausbrüchen neigte, war ihm sowieso immer ein Rätsel gewesen, und mehr als einmal hatte er Willy wegen der klitzekleinsten Verfehlung windelweich geprügelt. Nein, sich an ein Leben ohne diesen Pulverkopf zu gewöhnen fiel ihm nicht schwer. Es machte ihm nicht die geringste Mühe.
    So oder ähnlich hatte es sich der gute Doktor Bones zurechtgereimt. Man brauchte ja nichts auf seine Diagnose zu geben, aber wem sollte man sonst trauen? Nachdem er sich in den vergangenen sieben Jahren all die Geschichten angehört hatte, hatte er da nicht ein Recht darauf, sich als die weltweit führende Autorität auf diesem Gebiet zu bezeichnen?
    Jedenfalls blieb Willy allein mit seiner Mutter zurück. Sie war nun wirklich nicht das, was man sich unter einem verträglichen Menschen vorstellte, aber wenigstens behielt sie ihre Hände bei sich und schenkte ihm ein erhebliches Maß an Zuneigung - genügend Herzenswärme zum Ausgleich für die Zeiten, in denen sie an ihm herumkrittelte, ihm Predigten hielt und ihm auf die Nerven ging. Im großen und ganzen versuchte Willy, ihr ein guter Sohn zu sein. In jenen seltenen Augenblicken, in denen er in der Lage war, nicht nur an sich selbst zu denken, bemühte er sich sogar ernsthaft, nett zu ihr zu sein. Die Zwistigkeiten, die sie hatten, entsprangen weniger persönlicher Animosität als vielmehr ihren vollkommen gegensätzlichen Ansichten von der Welt. Aus mühsam erworbener Erfahrung wußte Mrs. Gurevitch, daß die Welt ihr ans Leder wollte; sie lebte dementsprechend und tat, was sie konnte, um der Gefahr aus dem Weg zu gehen. Willy wußte ebenfalls, daß die Welt ihm ans Leder wollte, doch anders als seine Mutter hatte er nicht die geringsten Skrupel, zurückzuschlagen. Der Unterschied lag nicht darin, daß die eine Pessimistin und der andere Optimist war, sondern darin, daß der Pessimismus der einen sie dazu brachte, die Furcht zu ihrem Lebensmotto zu machen, und der Pessimismus des anderen ihn zu allumfassender, lautstarker und streitlustiger Verachtung nötigte. Die eine zuckte zurück, der andere schlug um sich. Die eine zog einen Schlußstrich, der andere radierte ihn aus. Die meiste Zeit lagen sie sich in den Haaren, und weil Willy, wie er bald herausfand, seine Mutter so leicht schockieren konnte, ließ er nur selten eine Gelegenheit zum Streit aus. Wenn sie nur soviel Verstand gehabt hätte, ein bißchen nachzugeben, hätte er sich nicht so hartnäckig darauf versteift, seine Ansichten durchzusetzen. Ihr Widerstand reizte ihn, drängte ihn zu immer extremeren Haltungen, und als es Zeit wurde, das Haus zu verlassen und aufs College zu gehen, hatte er sich ganz auf seine selbstgewählte Rolle als unzufriedener Rebell, als geächteter Poet, der durch die Gosse einer kaputten Welt streift, festgelegt.
    Gott weiß, wie viele Drogen der Junge in den zweieinhalb Jahren einpfiff, die er in Morningside Heights verbrachte. Er rauchte, schnupfte oder spritzte alles, Hauptsache, es war illegal. Es ist eine Sache, herumzulaufen und so zu tun, als wäre man der wiedergeborene Francois Villon, aber wenn man einem labilen jungen Mann so viele süße Pillen zuführt, daß man mit dem darin enthaltenen Gift eine Müllkippe in New Jersey hätte füllen können, dann ändert sich eben seine Körperchemie. Früher oder später wäre Willy wohl sowieso durchgeknallt, aber wer wollte bestreiten, daß die psychedelischen Cocktails seiner Studententage diesen Prozeß beschleunigten? Als sein Zimmergenosse eines Nachmittags im ersten Collegejahr hereingeplatzt kam und Willy splitternackt auf dem Fußboden fand, wo er aus dem Telefonbuch von Manhattan rezitierte und eine Schüsselvoll seiner eigenen Exkremente verzehrte, nahm die akademische Karriere von Mr. Bones’ zukünftigem Herrchen ein abruptes und endgültiges Ende.
    Danach kam die Klapsmühle, worauf Willy in die Wohnung seiner Mutter in die Glenwood Avenue zurückkehrte. Nicht gerade der ideale Ort für ihn, aber wo sollte so ein Ausgebrannter wie
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