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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
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der arme Willy denn sonst hin? In den ersten sechs Monaten kam bei diesem Arrangement nichts Gutes heraus. Abgesehen davon, daß er von den Drogen zum Alkohol überging, blieb im Grunde alles beim alten. Dieselben Spannungen, dieselben Streitereien, dieselben Mißverständnisse. Doch dann, Ende Dezember 1969, hatte Willy aus heiterem Himmel jene Vision, die alles ändern sollte, jene mystische Begegnung mit der Glückseligkeit, die sein Innerstes nach außen kehrte und seinem Leben eine völlig neue Richtung gab.
    Es war halb drei morgens. Seine Mutter war schon vor Stunden ins Bett gegangen, und Willy fläzte sich mit einer Schachtel Luckies und einer Flasche Bourbon auf dem Wohnzimmersofa und sah mit halbem Auge fern. Fernsehen war eine ganz neue Angewohnheit von ihm, ein Nebenprodukt seines kürzlichen Krankenhausaufenthalts. Er interessierte sich nicht sonderlich für die Bilder auf der Mattscheibe, aber er mochte das Summen und Leuchten der Röhre im Hintergrund und fand Trost in den graublauen Schatten, die sie an die Wände warf. Die Spätshow lief (irgendwas über riesige Heuschrecken, die die Einwohner von Sacramento, Kalifornien, verspeisten), doch der Großteil der Sendezeit war geschmacklosen Ergüssen über bahnbrechende Wunderdinge gewidmet: Messer, die nie stumpf wurden, Glühbirnen, die nie durchbrannten, Lotionen nach irgendwelchen Geheimrezepturen, die den Fluch der Kahlköpfigkeit von einem nahmen. Bla, bla, bla, murmelte Willy vor sich hin, immer dasselbe blöde Gequatsche. Aber als er gerade aufstehen und den Fernseher abschalten wollte, kam ein neuer Werbespot, und darin kullerte der Weihnachtsmann bei irgendwem zu Hause aus dem Kamin in ein Wohnzimmer, das aussah wie irgendeines in Massapequa, Long Island. Weihnachten stand vor der Tür, und Willy hatte sich an all die Werbespots gewöhnt, in denen Schauspieler als Nikoläuse oder Weihnachtsmänner verkleidet auftraten. Doch dieser Weihnachtsmann war besser als die meisten anderen - ein kugelrundes Kerlchen mit rosigen Wangen und einem richtigen weißen Bart. Willy hielt kurz inne, um sich den Anfang des Werbegesülzes anzuhören, und rechnete schon damit, irgend etwas über Teppichshampoos oder Einbruchsmelder erzählt zu bekommen, als der Weihnachtsmann plötzlich die Worte sprach, die sein ganzes Leben verändern sollten.
    »William Gurevitch«, sagte er. »Ja, genau, William Gurevitch aus Brooklyn, New York, ich rede mit dir.«
    Willy hatte in jener Nacht erst eine halbe Flasche getrunken, und seit seiner letzten ausgewachsenen Halluzination waren acht Monate vergangen. Niemand konnte ihn dazu bringen, diesen Blödsinn für bare Münze zu nehmen. Er kannte den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Wahn, und wenn der Weihnachtsmann aus dem Fernseher seiner Mutter heraus mit ihm redete, konnte das nur heißen, daß er, Willy, betrunkener war als angenommen.
    »Du kannst mich mal, Mister«, sagte er, und ohne noch länger darüber nachzudenken, schaltete er den Fernseher aus.
    Leider konnte er es nicht dabei belassen. Aus Neugier, oder nur um sicherzugehen, daß ihm kein neuer Nervenzusammenbruch bevorstand, beschloß er, ihn noch einmal einzuschalten - nur für einen flüchtigen letzten Blick. Das würde doch keinem schaden, oder? Lieber der Wahrheit ins Auge sehen, als mit einem Sack voller Weihnachtsmist rumzulaufen, der ihm die nächsten vierzig Jahre auf der Seele liegen würde.
    Und siehe da, da war er wieder. Da stand der verdammte Weihnachtsmann, drohte Willy mit dem Finger und schüttelte mit einem traurigen, enttäuschten Blick den Kopf. Als er den Mund aufmachte und zu sprechen begann (wobei er genau dort ansetzte, wo er zehn Sekunden zuvor aufgehört hatte), wußte Willy nicht, ob er laut herauslachen oder aus dem Fenster springen sollte. Es geschah also wirklich. Es geschah, was nicht geschehen konnte, und da ging ihm auf, daß ihm künftig nichts auf der Welt je wieder so erscheinen würde wie zuvor.
    »Das war nicht nett von dir, William«, sagte der Weihnachtsmann. »Ich bin hier, um dir zu helfen, aber wenn du mir keine Gelegenheit gibst zu sprechen, wird daraus nichts. Verstehst du mich, mein Junge?«
    Die Frage schien nach einer Antwort zu heischen, aber Willy zögerte. Sich diesen Clown anzuhören war schlimm genug. Wollte er wirklich alles noch schlimmer machen, indem er mit ihm redete?
    »William!« sagte der Weihnachtsmann. Seine Stimme klang streng und vorwurfsvoll, und sie brachte die Macht einer Persönlichkeit zum
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