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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
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nie gelebt.
    Und hier kam Bea Swanson ins Spiel. Willy wußte, daß er nur im dunkeln stocherte, aber falls er sie wirklich fand, würde sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihm zu helfen, davon war er fest überzeugt. Einst, als die Welt noch ganz jung gewesen war, hatte Mrs. Swanson ihn in der High-School im Englischen unterrichtet, und wenn sie nicht gewesen wäre, wer weiß, ob er dann je den Mut aufgebracht hätte, sich für einen Schriftsteller zu halten. Damals war er noch William Gurevitch gewesen, ein schmächtiger Sechzehnjähriger mit einer Leidenschaft für Bücher und Be-Bop, und sie hatte ihn unter ihre Fittiche genommen und seine ersten Arbeiten so über den grünen Klee gelobt, daß deren wahrer Wert darunter schier verschwand und er sich schon vorgekommen war wie der kommende Hoffnungsträger der amerikanischen Literatur. Die Frage, ob sie ihm damit recht oder unrecht tat, spielt keine Rolle, denn in diesem Alter zählen Ergebnisse weniger als Erwartungen; Mrs. Swanson hatte das Fünkchen Talent in seinen Ansätzen erkannt, und kein Mensch auf der Welt kann etwas werden, wenn nicht jemand an ihn glaubt. Das ist eine Tatsache, und während der Rest der Klasse in der Midwood-High-School in Mrs. Swanson nur eine füllige Frau um die Vierzig mit speckigen Armen sah, die jedesmal schwabbelten, wenn sie etwas an die Tafel schrieb, fand Willy sie schön, ein Engel, der vom Himmel gekommen war und menschliche Gestalt angenommen hatte.
    Doch als im Herbst die Schule wieder anfing, war Mrs. Swanson nicht mehr da. Ihr Mann hatte eine Arbeit in Baltimore angeboten bekommen, und da Mrs. Swanson nicht nur Lehrerin, sondern auch Ehefrau war, blieb ihr keine andere Wahl, als Brooklyn zu verlassen und dorthin zu gehen, wohin Mr. Swanson ging. Für Willy war das ein schwerer Schlag gewesen, aber es hätte auch schlimmer kommen können, denn obwohl seine Mentorin nun weit weg war, vergaß sie ihn nicht. In den folgenden Jahren unterhielt sie eine lebhafte Korrespondenz mit ihrem jungen Freund, las und kommentierte weiterhin die Manuskripte, die er ihr schickte, vergaß seine Geburtstage nicht, zu denen sie ihm alte Charlie-Parker-Platten schenkte, und schlug ihm kleinere Literaturmagazine vor, bei denen er seine Arbeiten zur Veröffentlichung einreichen sollte. Das überschwengliche, geradezu schwärmerische Empfehlungsschreiben, das sie ihm im Abschlußjahr schrieb, half ihm, ein volles Stipendium an der Columbia University zu ergattern. Mrs. Swanson war Willys Muse, Beschützerin und Talisman in einer Person, und an diesem Punkt in seinem Leben gab es offenkundig nichts, was er nicht erreichen konnte. Doch dann kam der Ausraster im Jahre 1968, der schizophrene Schub, der wilde Tanz der nackten Wahrheit auf dem Hochspannungsdraht. Man sperrte ihn in eine Klinik, und nach sechsmonatiger Schockbehandlung und all den Psychopharmaka wurde er nie wieder ganz der Alte. Er schloß sich der Armee der herumirrenden Versehrten an, und obwohl er, ob gesund oder krank, ununterbrochen weiter Gedichte und Kurzgeschichten produzierte, konnte er sich nur noch selten dazu aufraffen, Mrs. Swansons Briefe zu beantworten. Die Gründe spielen keine Rolle. Vielleicht war es ihm peinlich, mit ihr in Kontakt zu bleiben. Vielleicht war er abgelenkt, hatte anderes im Kopf. Vielleicht verlor er das Vertrauen in die Post und verdächtigte die Zusteller, in den Briefen herumzuschnüffeln. Jedenfalls reduzierte sich seine einst umfangreiche Korrespondenz mit Mrs. Swanson auf ein Minimum. Ein, zwei Jahre lang bestand sie nur noch aus einer gelegentlichen Postkarte, dann aus dem vorgedruckten Weihnachtsgruß, und 1976 war sie ganz eingeschlafen. Seitdem hatten sie kein Wort mehr gewechselt.
    Mr. Bones wußte das alles, deshalb machte er sich ja solche Sorgen. Siebzehn Jahre waren seitdem vergangen. Damals war noch Gerald Ford Präsident gewesen, und er selbst sollte erst zehn Jahre später auf die Welt kommen. Wollte Willy ihn für dumm verkaufen? Wenn man sich mal vorstellte, was in der Zeit alles passieren konnte. Wenn man sich mal vorstellte, was in siebzehn Stunden oder siebzehn Minuten alles passieren konnte - von siebzehn Jahren ganz zu schweigen. Zuallermindest war Mrs. Swanson doch bestimmt umgezogen. Das alte Mädchen würde inzwischen auf die Siebzig zugehen, und wenn sie nicht völlig senil in einem Trailerpark in Florida lebte, schien es ziemlich wahrscheinlich, daß sie längst gestorben war. Das hatte auch Willy einräumen
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