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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
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Alptraum voller Käfige und Neonlicht aus und endete mit einer tödlichen Spritze oder einer Dosis Giftgas. Wenn Mr. Bones irgendeiner erkennbaren Rasse angehört hätte, wäre ihm vielleicht eine Chance im täglichen Schönheitswettbewerb um einen neuen Besitzer geblieben, aber Willys Kumpel war der reinste Gencocktail - teils
    Collie, teils Labrador, teils Spaniel, teils Promenadenmischung-, und was die Sache noch schlimmer machte, sein zottiges Fell hing voller Kletten, er roch nicht gut aus dem Maul, und der Blick aus seinen blutunterlaufenen Augen kündete von chronischer Traurigkeit. Niemand würde ihn retten wollen. Wie der obdachlose Barde zu sagen pflegte: Die Zukunft ist in Stein gemeißelt. Wenn Mr. Bones nicht fix ein anderes Herrchen fand, war aus die Maus.
    »Und wenn die mit dem Betäubungsgewehr dich nicht erwischen«, fuhr Willy fort, während er sich an jenem nebligen Morgen in Baltimore an eine Laterne klammerte, um nicht umzufallen, »gibt’s noch tausend andere Möglichkeiten. Ich warne dich, Kimosabe. Such dir ’nen neuen Gig, sonst sind deine Tage gezählt. Schau dich doch bloß mal in diesem Kaff um: an jeder Straßenecke ein China-Restaurant, und wenn du glaubst, daß denen da drin nicht das Wasser im Mund zusammenläuft, wenn du vorbeispazierst, dann hast du nicht den blassesten Schimmer von der asiatischen Küche. Die stehen auf Hund, Freundchen. Die Köche jagen Streuner und schlachten sie in der Gasse gleich hinter der Küche - zehn, zwanzig, dreißig die Woche. Auf der Speisekarte steht dann vielleicht Ente oder Schwein, aber die Insider wissen Bescheid, und Feinschmecker lassen sich keine Sekunde hinters Licht führen. Wenn du nicht als Ente süß-sauer enden willst, solltest du dir ganz genau überlegen, ob du vor so einer China-Freßbude mit dem Schwanz wedelst. Hast du kapiert, Mr. Bones? Erkenne deinen Feind - und dann mach einen weiten Bogen um ihn.«
    Mr. Bones hatte kapiert. Mr. Bones verstand alles, was Willy zu ihm sagte. Das tat er schon, so lange er zurückdenken konnte, und mittlerweile beherrschte er dieses Engelsch so gut wie irgendein anderer Einwanderer, der seit sieben Jahren im Land ist. Natürlich war es eine Fremdsprache und unterschied sich deutlich von der, die ihm seine Mutter beigebracht hatte, doch obwohl seine Aussprache einiges zu wünschen übrig ließ, kannte er sich bestens mit den Feinheiten von Grammatik und Syntax aus. Bei einem Tier von Mr. Bones’ Intelligenz war das nicht weiter komisch oder ungewöhnlich. Die meisten Hunde eignen sich ziemlich gute Kenntnisse der Zweibeinersprache an, aber in Mr. Bones’ Fall kam noch der Vorteil hinzu, daß er mit einem Herrchen gesegnet war, das ihn nicht als untergeordnetes Wesen behandelte. Sie waren von Anfang an Kumpel gewesen, und wenn man berücksichtigte, daß Mr. Bones nicht nur Willys bester, sondern auch sein einziger Freund war, und zudem wußte, daß Willy sich gern reden hörte und ein lupenreiner Logomane war, der vom frühen Morgen, wenn er die Augen aufschlug, bis zum späten Abend, wenn er betrunken einschlief, kaum je zu plaudern aufhörte, dann war vollkommen klar, warum sich Mr. Bones in dieser Sprache so heimisch fühlte. So betrachtet war es nur merkwürdig, daß er sie nicht besser sprechen gelernt hatte. Nicht, daß er sich keine ernsthafte Mühe gegeben hätte, aber die Biologie war gegen ihn, und aufgrund der Gestalt von Schnauze, Zähnen und Zunge, mit der ihn das Schicksal bedacht hatte, war das Beste, was er hervorbringen konnte, ein Kläffen, Gähnen und Jaulen, was ein ziemlich irres, verworrenes Gebrabbel ergab. Ihm war schmerzlich bewußt, wie unverständlich diese Laute waren, aber Willy ließ ihn stets ausreden, und letzten Endes zählte nur das. Mr. Bones konnte zu allem seinen Senf dazugeben und sich der Aufmerksamkeit seines Herrchens sicher sein, und wenn man Willys Gesicht gesehen hätte, während er seinem Freund zuschaute, der sich mühte, sich nach Art der menschlichen Rasse verständlich zu machen, hätte man schwören können, daß er jedes einzelne Wort verstand.
    An jenem trüben Sonntag in Baltimore hielt Mr. Bones allerdings hübsch die Schnauze. Ihnen blieben nur noch ein paar gemeinsame Tage, vielleicht Stunden, und dies war nicht der rechte Augenblick, lange Reden zu schwingen oder Hirngespinste auszubrüten und solchen Quatsch. Gewisse Situationen verlangten Takt und Disziplin, und in ihrer gegenwärtigen Klemme war es erheblich besser, stumm zu bleiben und
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