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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
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den braven, treuen Hund zu spielen. Er ließ sich ohne zu murren die Leine anlegen. Er beklagte sich nicht darüber, daß er in den letzten sechsunddreißig Stunden nichts zu fressen bekommen hatte; er schnupperte nicht nach weiblichen Düften; er pinkelte nicht an jede Laterne und jeden Hydranten. Er trabte einfach neben Willy her und suchte mit ihm auf den verlassenen Boulevards die 316 Calvert Street.
    Mr. Bones hatte nichts gegen Baltimore an sich. Es roch dort nicht schlimmer als in irgendeiner der anderen Städte, in denen sie über die Jahre gehaust hatten, aber obwohl ihm der Zweck der Reise klar war, bekümmerte es ihn, daß ein Mann seine letzten Augenblicke auf Erden freiwillig an einem Ort verbringen wollte, wo er noch nie gewesen war. Einem Hund wäre ein solcher Schnitzer nie unterlaufen. Er hätte seinen Frieden mit der Welt gemacht und dann dafür gesorgt, daß er den Geist auf vertrautem Terrain aufgab. Aber Willy hatte noch zwei Dinge zu erledigen, bevor er starb, und mit der ihm eigenen Sturheit hatte er sich in den Kopf gesetzt, daß es nur einen Menschen gab, der ihm dabei helfen konnte. Dieser Mensch hieß Bea Swanson, und da besagte Bea Swanson nach letztem Wissensstand in Baltimore lebte, waren sie hergekommen, um sie zu suchen. Alles schön und gut, aber wenn Willys Plan schiefging, würde Mr. Bones allein in dieser Stadt der crab cakes und der Marmorstufen enden, und was dann? Mit einem Anruf wäre die Sache in einer halben Minute erledigt gewesen, aber Willy hatte eine geradezu philosophische Abneigung dagegen, in wichtigen Angelegenheiten zu telefonieren. Lieber lief er tagelang, statt eines dieser Dinger in die Hand zu nehmen und mit jemandem zu sprechen, den er nicht sehen konnte. Also zogen sie nun zweihundert Meilen später ohne Stadtplan durch die Straßen von Baltimore und suchten nach einer Anschrift, die es vielleicht gar nicht gab.
    Die zwei Dinge, die Willy noch vor seinem Tod zu erledigen hoffte, waren von gleichermaßen entscheidender Bedeutung, und da die Zeit zu knapp geworden war, sie einzeln in Angriff zu nehmen, hatte er sich etwas ausgedacht, was er das Chesapeake-Gambit nannte: ein allerletzter Trick, um beide Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Von der ersten Aufgabe war schon auf den vorangehenden Seiten die Rede: eine neue Bleibe für seinen strubbligen Begleiter zu finden. Die zweite bestand darin, seine eigenen Angelegenheiten zu regeln und sicherzustellen, daß seine Manuskripte in gute Hände kamen. Im Augenblick lag sein Lebenswerk in einem Schließfach am Greyhound-Terminal in der Fayette Street, zweieinhalb Blocks nördlich von dort, wo Willy und Mr. Bones standen. Der Schlüssel steckte in Willys Tasche, und wenn er nicht jemanden fand, der es wert war, daß man ihm diesen Schlüssel anvertraute, dann würde jedes Wort, das er je geschrieben hatte, wie herrenloses Gepäck auf dem Müll landen.
    In den dreiundzwanzig Jahren, seit er sich den Zunamen Christmas zugelegt hatte, hatte Willy die Seiten von vierundsiebzig Notizbüchern mit seinen Texten gefüllt. Darunter waren Gedichte, Kurzgeschichten, Essays, Tagebucheinträge, Epigramme, autobiographische Betrachtungen und die ersten achtzehnhundert Zeilen von Wandertage, einem Versepos, an dem er gerade arbeitete. Der Großteil dieses Werkes war am Küchentisch in der Wohnung seiner Mutter in Brooklyn entstanden, doch seit ihrem Tod vor vier Jahren war er gezwungen gewesen, unter freiem Himmel zu schreiben, und hatte oft in öffentlichen Parks und staubigen Gassen gegen die Elemente gekämpft, um seine Gedanken zu Papier zu bringen. Im tiefsten Inneren gab sich Willy keiner Selbsttäuschung hin. Er wußte, daß er eine gepeinigte Seele war und für diese Welt nicht taugte, aber er wußte auch, daß in diesen Notizbüchern viel gute Arbeit steckte, und zumindest in dieser Hinsicht brauchte er sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Wenn er ein bißchen gewissenhafter seine Medikamente genommen hätte, oder wenn er ein bißchen kräftiger gewesen wäre, oder wenn ihm der Whiskey und der Schnaps und das Treiben in den Bars nicht so zugesagt hätten, wäre vielleicht noch mehr gute Arbeit dabei herausgekommen. Schon möglich, aber nun war es zu spät, über Fehler und Versäumnisse zu jammern. Er hatte den letzten Satz aus seiner Feder fließen lassen, und seine Uhr war beinahe abgelaufen. Mehr als die Wörter in dem Schließfach hatte er nicht vorzuweisen. Wenn sie verlorengingen, wäre es, als hätte er
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